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PolitikEuropa

Hier dreht sich alles um den Fisch

Barbara Wesel
18. November 2020

Die Fischereirechte nach dem Brexit sind besonders umstritten. Vom französischen Hafen Boulogne aus wird seit jeher in britischen Gewässern gefischt - die Bewohner leben derzeit zwischen Hoffnung und Angst.

Frankreich Fischerei in Boulogne-sur-Mer
Die Tiger III der Familie Sagot wird am Kai in Boulogne ausgeladen Bild: Georg Matthes/DW

Es ist vier Uhr früh am Pier im Hafen von Boulogne, dunkel, windig und nieselig. Gerade ist der Fischkutter Tiger III eingelaufen, auf dem in dritter Generation die Familie Sagot arbeitet. Sofort wird der Fang ausgeladen: Vater Jean-Pierre bedient die Hebel, Sohn Sebastien kettet die grünen Fischkisten zusammen, die aus dem Bauch des Schiffes emporschweben. Auf dem Pier wartet der Gabelstapler, der sie in die große Kühlhalle fährt. Schon um fünf Uhr ist Auktion, eine halbe Stunde später verfrachten die Händler den frischen Fisch in ihre Lastwagen.

Das Aus für Familienunternehmen?

"Ich bin der Eigentümer und ich warte darauf, dass mein Sohn hier übernimmt. Ich habe das für ihn aufgebaut. Wir arbeiten hier schon seit 47 Jahren und am Ende ist alles für ihn." Aber wenn es mit dem Brexit so wird, wie sie erwarten, dann werde es kompliziert, sagt Jean-Pierre Sagot. Denn er fischt zehn Monate im Jahr im Ärmelkanal und fängt vor allem Rotbarben und Plattfisch.

Jean Pierre Sagot - seit 47 Jahren FischerBild: Georg Matthes/DW

Bisher kann der Fischer nach EU-Regeln fast das gesamte Gewässer nutzen. Müsste die Tiger III nach dem Brexit aber auf der französischen Seite bleiben, wenn eine neue Seegrenze in der Mitte zwischen dem britischen und dem französischen Festland entsteht, wäre das ein großes Problem - es wäre einfach nicht genug Fisch da. "Schon jetzt sind im Ärmelkanal zu viele Schiffe unterwegs", sagt Sagot, neben Franzosen vor allem Niederländer und Belgier. 

Trotzdem kann sich die Familie ein Ende nicht vorstellen. Das Schiff der Sagots ist erst zwei Jahre alt und muss noch abgezahlt werden. Sohn Sebastien ist als Fünfjähriger zum ersten Mal mit rausgefahren, erzählt er. Noch als Teenager begann er voll mitzuarbeiten und kann sich eine andere Zukunft nicht vorstellen: "Mein Großvater hat sein erstes Schiff Tiger I genannt, das hier ist jetzt unser Drittes." Der Brexit beunruhigt ihn durchaus, aber wie sein Vater hofft er, dass die Verhandlungen noch irgendwie die Rettung bringen. 

Die Fischhändler in der HafenhalleBild: Georg Matthes/DW

Kaum ist der Fang entladen, kommt Sebastiens Schwester an den Kai und bringt Tüten mit Lebensmitteln und trockener Wäsche. Die Frühstückpause an Land fällt aus, schon eine halbe Stunde später nimmt der Kutter wieder Fahrt zurück in den Ärmelkanal.

Fischer und Händler brauchen einen Deal

Olivier Leprêtre ist Verbandsvorsitzender der nordfranzösischen Fischer und hat wenig Illusionen: "Boulogne braucht unbedingt ein Abkommen. Wir sind der größte Fischereihafen in Frankreich mit 450.000 Tonnen Umsatz, davon 300.000 Tonnen eigener Fang. Das hier ist eine Kette: Am Anfang stehen die französischen Fischer, die weiter Zugang zu britischen Gewässern brauchen, dann kommen die Händler und Verarbeitungsbetriebe an Land." Gebe es einen harten Brexit ohne Abkommen über die Fischrechte, wäre es "die Katastrophe", sagt Leprêtre.

Olivier Leprêtre vom Fischereiverband sieht den Bankrott, wenn es kein Fischereiabkommen mit den Briten gibtBild: Georg Matthes/DW

Die kleinen Schiffe bis 25 Meter fischen zu 60 bis 80 Prozent in britischen Gewässern, die größeren Trawler fast ausschließlich, erklärt der Verbandsvertreter. Hinter ihm wird gerade die Cap Nord entladen, eine Rostlaube von einem Schiff, das Seelachs vor der nördlichen Küste Schottlands gefangen hat. Unter Deck arbeitet eine kleine Fabrik, wo der Fisch filetiert, tiefgefroren und fertig in Kisten verpackt wird. Über ein Förderband rollen sie auf die Gabelstapler am Kai und von da sofort in die Kühlhalle.

Die Cap Nord fischt an der nördlichen Küste vor Schottland - ohne Abkommen würde sie ihre Fischgründe verlierenBild: Georg Matthes/DW

"Das Schiff ist 35 Jahre alt", sagt einer der Beschäftigten und hätte längst abgewrackt werden müssen, "aber vor dem Brexit wollten die Eigentümer nicht investieren". Für Trawler wie diesen könnte der 31. Dezember das Ende bedeuten, sollten nach einem harten Ende der Übergangszeit die Gewässer 200 Kilometer weit um das britische Festland für EU-Fischer gesperrt sein. Kein Abkommen "wäre für sie der unmittelbare Bankrott", erklärt Olivier Leprêtre. 

Der Bürgermeister von Boulogne, Frederic Cuvillier, plädiert für Vernunft Bild: Georg Matthes/DW

Andererseits solle man nicht "die britischen Fischer-Kollegen" vergessen, mahnt der Verbandsvertreter. Für sie sei es wichtig, dass sie ihren Fisch weiter in Boulogne verkaufen könnten, denn auf dem europäischen Markt lieben die Verbraucher die Krustentiere, Seezungen und anderen Plattfische, die sie in den Netzen haben: 70 Prozent des britischen Fangs gehen an die EU. Die Briten mögen diese Sorten gar nicht und kaufen stattdessen einen Großteil des Kabeljaus für "Fish and Chips", die europäische Fischer im Norden aus dem Meer ziehen. Eigentlich scheint ein Gegengeschäft hier möglich. 

Kann man "Vernunft" fischen?

Für Bürgermeister Frederic Cuvillier geht es um die Zukunft seiner Stadt: 5000 Arbeitsplätze hängen in Boulogne von der Fischerei ab. Weitere Jobs stehen in der übrigen Region auf dem Spiel. Und weniger als 50 Tage vor Ende der Übergangszeit weiß man immer noch nicht, was wird: "Es ist beunruhigend, aber man muss weiter auf ein Abkommen hoffen. Wir brauchen einen Appell an die Vernunft!"

Cuvillier war früher französischer Fischereiminister und kennt das politische Spiel: "Man kann doch nicht 30 Kilometer Seegrenze zu einer unüberwindlichen Hürde machen. Beide Seiten brauchen Kompromisse", und für beide wäre ein "geschmeidiges Abkommen" am besten. Außerdem erinnert auch er: "Sie haben den Fisch, wir haben den Markt mit über 400 Millionen Verbrauchern." Die "britischen Freunde" hätten doch das gleiche Interesse an einer guten Lösung wie die Franzosen und anderen Anrainerstaaten.

Die Kontrolle über britischen Fisch zurückgewinnen - Boris Johnson im Hafen Grimsby im letzten Wahlkampf Bild: Getty Images/B. Stansall

Cuvillier warnt vor einer politischen Eskalation, wo es nur noch um abstrakte Konzepte wie Souveränität gehe. "Ich kann die britische Position verstehen", aber beide Seiten seien doch wirtschaftlich, politisch und kulturell seit jeher Partner und gewohnt, zusammen zu arbeiten. Boulognes Bürgermeister will nicht glauben, dass diese gemeinsame Geschichte in wenigen Wochen über Bord gehen soll. Und außer Staatshilfen hat er auch keinen Plan B für seine Stadt, deren Wirtschaft, Gastronomie, Kultur und Geschichte vom Fisch bestimmt ist. 

Take back control!

Für Boris Johnson war die Fischerei in der Brexitkampagne wie im letzten Wahlkampf eines der Hauptschlachtfelder. Immer wieder versprach er britischen Fischern die Rückkehr der "vollen Kontrolle über ihre Gewässer", ohne zu erwähnen, dass sie ihren Fisch schließlich nur mit Zustimmung der EU auf dem Kontinent verkaufen können. Dabei steht die Fischerei nur für 0,04 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung, aber sie hat eine unverhältnismäßig große politische und symbolische Bedeutung gewonnen.

Nicht viel anders ist es in Frankreich,  wo Präsident Emmanuel Macron im Oktober schwor, er werde keinem Deal zustimmen, bei dem die französischen Fischer "geopfert" würden. In Frankreich wird im Frühjahr 2022 gewählt - Macron kann es sich nicht leisten, den strukturschwachen Norden und die Bretagne gegen sich aufzubringen.

Alles was die EU und das Königreich bisher informell auf den Tisch gelegt haben, wurde von der anderen Seite weggewischt: Die Europäer wollen vier Fünftel des Zugang zu britischen Gewässern behalten - London sagt nein. Die Briten wollen jährlich über Quoten verhandeln oder eine gleitende Übergangszeit - Brüssel sagt Nein. Bisher hat noch niemand den Vorschlag gesehen, mit dem die Quadratur des Kreises beim Fisch zu lösen wäre.

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