Hier Moldauer, dort Rumänen
30. Januar 2002Chisinau, 23.1.2002, 616 GMT, RADIO MOLDOVA, rumän.
Die Regierungszeitungen, die gestern (22.1.) in Chisinau erschienen sind, veröffentlichen den offenen Brief des Präsidenten der Republik Moldau, Vladimir Voronin, an Ion Druta, Akademiemitglied und "Schriftsteller des Volkes". In dem Brief heißt es:
(...) "Nach einem Jahrzehnt der Unabhängigkeit der Republik Moldau muss ich leider feststellen, dass (...) sich die Lage im Land nicht gebessert hat. Die Parteien haben ihren Auftrag nicht erfüllt, die Gesellschaft zu konsolidieren und die Bevölkerung für Aktivitäten zum Wohle des Landes zu gewinnen. Infolge dessen befindet sich die Republik Moldau politisch gesehen in einem ständigen nicht erklärten Bürgerkrieg. Die sogenannten nationalen Parteien unterminieren systematisch die Grundlagen der moldauischen Staatlichkeit und die nationalen Interessen des Landes. (...) Institutionen des Staates, Persönlichkeiten und normale Bürger, die zum Aufbau des moldauischen Staates beitragen möchten, werden in Verruf gebracht.
Die gegnerischen Kräfte entfalten umfangreiche Kampagnen zur Entmutigung der Bevölkerung, indem sie die Idee verbreiten, die Republik Moldau sei ein künstliches und provisorisches Staatsgebilde. Ebenso bestehen sie auf der These von der Existenz zweier rumänischer Staaten. Die Moldauer haben nicht mehr das Recht auf einen eigenen Namen und auf ihre eigene Nationalsprache. Bestenfalls gelten sie als bessarabische Rumänen, ansonsten als zufällige Ansammlung von Einzelpersonen oder als einfache und anonyme Bevölkerung.
Die Verfassung der Republik Moldau wird von denjenigen, die sich als Demokraten und Patrioten betrachten, mit Füßen getreten. So sieht die Lage tatsächlich aus. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme, die dringend gelöst werden müssen, weil unser Sturz in den Abgrund sonst unumgänglich wäre. Das Wasser steht uns bis zum Hals, wie die Moldauer zu sagen pflegen. (...)
Bei allen Völkern der Welt stand am Ende der nationalen Bewegung die Ausrufung der politischen Unabhängigkeit des betreffenden Volkes und die Gründung des Nationalstaates. Dies ist bei uns am 27. August 1991 geschehen. Seit diesem Tag gibt es keine nationale Bewegung mehr in der Republik Moldau. Folglich kann eine Partei, unabhängig von ihren politischen Ansichten, nur dann national sein, wenn sie das Ziel hat, den moldauischen Staat von heute aufzubauen. Dieser Staat steht jetzt am Anfang seines Weges. Ihre Existenz kann eine Partei nur dann rechtfertigen, wenn sie, obwohl sie die Interessen einer bestimmten sozialen Schicht vertritt, um das Wohlergehen des gesamten Volkes bemüht ist, unabhängig von der Volkszugehörigkeit der Bürger.
Obwohl die Führer der Parteien es nicht zugeben, sind bei uns im Land die meisten Parteien ethnischen Grundsätzen verpflichtet, das heißt, sie streben danach, lediglich die Interessen ethnischer Gemeinschaften zu wahren. Nun zeigt aber die Erfahrung in der Welt mehr als deutlich, dass ethnische Parteien nur imstande sind, das Volk zu entzweien: hier "die Unsrigen", dort "die Ihren". Leider verfolgen auch die sogenannten nationalen Parteien in der Republik Moldau dieses Ziel. Ihr Kampf um die Macht, eine normale Sache in einer demokratischen Gesellschaft, wird bei uns zu etwas Unnatürlichem: zu einem Kampf der Parteien gegen die Machthaber, also gegen den Staat.
Früher haben die nationalen Parteien einen Gegensatz hergestellt zwischen Moldauern auf der einen Seite und Russen, Ukrainern und anderen mitwohnenden Nationalitäten auf der anderen Seite. Heute hetzen sie Rumänen gegen Moldauer auf - nach dem Motto: "Je schlimmer, umso besser."
Im Namen der Wahrheit muss ich zugeben, dass auch die politischen Parteien, die angeblich die Interessen der nationalen Minderheiten in der Republik Moldau verteidigen, in Wirklichkeit zu ethnischen Konflikten aufwiegeln. Hinter den Losungen stecken oft unbedeutende politische Ziele, manchmal auch kriminelle Wirtschaftsinteressen.
Ich möchte Ihnen mitteilen: Nach der Machtübernahme durch unsere Partei (der Kommunisten – MD) haben diejenigen Kräfte, die der Konsolidierung des moldauischen Staates feindlich gegenüberstehen, ihre Aktivitäten verstärkt. Das gilt sowohl für Kräfte im Inland aus auch im Ausland. Es wird viel spekuliert über den anti-demokratischen und anti-nationalen Charakter unserer Partei. Die Angriffe unserer Gegner halten der Kritik nicht stand, in erster Linie, weil die Partei der Kommunisten in der Republik Moldau die Wahlen nach demokratischen Spielregeln gewonnen hat, und in zweiter Linie, weil die Kommunisten voll und ganz (...) die parlamentarischen Regeln beachten. Das irritiert unsere politischen Gegner. Sie möchten uns nur als konsequente Vorkämpfer der Traditionen der Nomenklatura der ehemaligen Kommunistischen Partei der Sowjetunion sehen. Aus dieser Nomenklatura kommen fast alle Leute, die jetzt die Angriffe der nationalen und demokratischen Opposition anführen.
Die Ideen, für die die Kommunisten heute stehen, stimmen mit den Jahrhunderte alten Bestrebungen der Menschheit überein, nämlich in einer gerechteren und besseren Welt zu leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Idee der Freiheit, der Brüderlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit noch viele Jahrhunderte gültig bleiben wird. Diese Partei (der Kommunisten – MD) kann nicht anti-national sein aus dem einfachen Grund, weil sie die nationalen Interessen des Staates Republik Moldau verteidigt und die Interessen der moldauischen Nation, die historisch in diesem einzigartigen Raum entstanden ist.
Die Entstehung der moldauischen Nation und des moldauischen Staates ist eine Tatsache. (...)
(Wir sind – MD) ein Land der Bürger und nicht der Nationalitäten. Die nationalen Interessen des Landes sind die Interessen des gesamten Volkes und nicht nur die Interessen der ethnischen Mehrheits- oder Minderheitengemeinschaft. Die moldauische Nation ist ein historisches Gemeinschaftsprodukt aller mitwohnenden Nationalitäten der Republik Moldau. Zusammen sind wir ein Land. Zusammen werden wir erfolgreich sein. Diese Losungen stammen nicht von mir. Sie wurden schon vorher in schweren Zeiten in anderen Ländern der Welt gebraucht, z. B. vom amerikanischen Präsidenten Roosevelt in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, vom deutschen Kanzler Adenauer in den Nachkriegsjahren und heute vom russischen Präsidenten Wladimir Putin.
(...) Meister (gemeint ist der Adressat des "Offenen Briefes" - MD), wir brauchen Ihren Rat und Ihre Unterstützung. Alle, die Ihr Werk kennen und die sich dem Volk zugehörig fühlen, das heute die moldauische Nation bildet, eine Nation, der Vertreter aller mitwohnenden Nationalitäten angehören, brauchen Hilfe, sie brauchen eine sichere, starke Hand. Wir müssen uns ein Land schaffen (...)
Hochachtungsvoll, Vladimir Voronin, Präsident der Republik Moldau, Chisinau, 17. Januar 2002"
(Der "Offene Brief" wurde im Programm des staatlichen moldauischen Rundfunksenders "Radio Moldova" am 23. Januar 2002 verlesen, einen Tag nachdem die kommunistische Regierung in Chisinau über die oppositionelle Christlich-Demokratische Volkspartei ein einmonatiges Betätigungsverbot verhängt hatte. – MD) (me)