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Hildegard sei Dank

Dort, wo der schönste Rheinabschnitt in Deutschland beginnt, liegen die Städte Bingen und Rüdesheim vis-à-vis. Während Rüdesheim für seine Weinseligkeit bekannt ist, kann Bingen mit einer großen Berühmtheit auftrumpfen.

Das so genannte Binger Loch am Rhein zwischen Burg Ehrenfels und dem MäuseturmBild: dpa
Die Abbildung zeigt Hildegard von Bingen an einem SchreibpultBild: dpa

Sie gilt vielen als erste deutsche Naturwissenschaftlerin, erste Ärztin und sogar als erste Feministin. Ohne Zweifel ist Hildegard von Bingen eine der außergewöhnlichsten Frauen des europäischen Mittelalters. Ihr hat Bingen am Rhein nicht nur den Namen zu verdanken. Die emanzipierte Nonne und schreibende Intellektuelle wusste sich durch den Rückzug ins Kloster große Freiräume zu schaffen. Auf dem Rubertsberg, dem heutigen Stadtteil Bingerbrück, ließ sie vor rund 900 Jahren ein Benediktiner-Kloster erbauen. Dort verfasste sie ihre wichtigsten Werke und setzte das Bild der Frau in ein neues Licht. Sie gab Gott Attribute, die allgemein auf Frauen angewandt wurden.

Die ihnen zugeschriebene Schwäche wandelte sie in Autoritätsgewinn um und vertrat selbstverständlich die Gleichheit der Verantwortung der Geschlechter beim Sündenfall. Dabei hatte sie keine Scheu, sich immer wieder mit Kirchenhäuptern anzulegen. Für damalige Zeiten war dieses Denken ungeheuerlich. Nicht nur deshalb ist Hildegard heute populär.

Wein als Medizin

Mit der Skepsis gegenüber der technisch orientierten Apparatemedizin setzte in Deutschland ein wahrer Hildegard-Boom ein: Hildegards Kräutermedizin und ihr ganzheitliches Denken wurden wieder entdeckt. Zum Beispiel spielte Wein in ihrem Heilwissen eine große Rolle, sie empfahl ihn aufgewärmt als Mittel gegen Inkontinenz. Ob Plätzchenrezepte, Wissenswertes über Wein und Dinkelbier, Koch-, Edelstein- und Kräuterbücher: Zahlreich ist die Literatur, die heute unter Hildegards Namen über die Ladentheken geht.

Ungleiche Nachbarn am Rhein

Etwas besseres als die Hildegard-Euphorie der letzten Jahre hätte Bingen gar nicht passieren können. Obwohl die Kleinstadt gar keine intakte Hildegardstätte mehr besitzt, konnte sie sich als Sachverwalter des Erbes durchsetzten. Heute lockt sie Neugierige aller Couleur, Forscher, Theologen, Esoteriker und Alternativ-Mediziner an. Sie gehen auf Spurensuche im Hildegard-Museum, besuchen die Begegnungsstätte in ihrem Geiste oder wandeln auf den Wein- und Naturlehrpfaden rund um Bingen. Kloster Rubertsberg wurde allerdings bereits im Dreißigjährigen Krieg dem Erdboden gleichgemacht. Auf der anderen Rheinseite befindet sich eine weitere Wirkungsstätte Hildegards: Das Kloster Eibingen liegt hoch über Rüdesheim.

Die Nachbarstadt von Bingen hatte es in mancherlei Hinsicht leichter. Sie gilt als Inbegriff weinseliger Rheinromantik und ist Ausflugsziel auf jeder Touristenroute entlang des Rheins. Wie auf dem Jahrmarkt geht es dort zu, wo jährlich 2,5 Millionen Touristen aus aller Welt durch die engen Gassen geschleust werden, Bingen ist da oft nur reine Durchgangsstation.

Belebter Platz im beschaulichen BingenBild: DW

Schaurige Geschichten



Mit Rüdesheim, das im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde, konnte Bingen nur schwer konkurrieren: Reihen- und Einfamilienhaus-Siedlungen dominieren den Gesamteindruck, vom alten Stadtbild ist wenig übrig geblieben. Allerdings ist der Stolz und das Wahrzeichen Bingens verschont geblieben. Um den mittelalterlichen "Mäuseturm" rankt sich eine der schaurigsten Sagen. Ein Bischof musste dort büßen und wurde für seinen Geiz von 1000 Mäusen gefressen. Noch bis 1975 wurden vom Turm Signale ausgesendet, um Schiffe durch die gefährliche Untiefe des Rheins, das "Binger Loch", zu lotsen.

Viele Wege führen nach Bingen

Bingen RheinpanoramaBild: DW
Vom Rhein hatte auch die eifrige Briefschreiberin Hildegard von Bingen profitiert, ließ er sie doch schnell über weite Distanzen kommunizieren. Damals wie heute lag die Stadt, wo die Nahe in den Rhein mündet und sich alte Römerstraßen trafen, an einem Verkehrsknotenpunkt. Heute hat Bingen zudem wichtige Anbindungen nach Koblenz, Mainz und Frankfurt. Zwei Bundesstraßen säumen durchgängig den Fluss, und etliche hundert Güter- und Personenzüge fahren bei Tag und Nacht durch das Rheintal.

Vom Wein zum Wandel

Bingen im Mittelrheintal gehört zu den am stärksten besuchten Urlaubsgebieten Deutschlands. Daneben sind Weinanbau und Weinhandel nach wie vor wichtige Wirtschaftsfaktoren. Doch die traditionell agrarisch geprägte Region macht einen Strukturwandel durch, hin zu einer Dienstleistungs- Informations- und Wissensökonomie. Viele Winzer in der Region geben wegen steigender Produktionskosten auf. Auch junge Leute sehen ihr Auskommen meist nicht mehr im Weinanbau.

Viele Menschen auf der ganzen Welt sind begeistert von der deutschen Rheinlandschaft. Ganze Burgen haben sie kopiert und nachgebaut. In Bingen können deren Vorbilder besichtigt werden, denn dort beginnt der schönste Rheinabschnitt, der den Reisenden stromabwärts führt. Der Fluss, der lange zu den am stärksten verschmutzten Gewässern Europas zählte, hat sich wieder erholt. In vielen Gegenden baden die Menschen wieder im Rhein, und über zwei Dutzend Fischarten tummeln sich im verkehrsreichsten Fluss Europas. Wenn der Rhein an Bingen vorbei rauscht, sieht er immer noch märchenhaft aus.