Hilfe, mein Kind ist ein Narzisst!
10. Januar 2022Narzissmus hat keinen guten Ruf. Wir denken schnell an egoistische Menschen, deren Glaube an die eigene Grandiosität gepaart ist mit einer unterirdischen Kritikfähigkeit, die zu aggressivem Verhalten führt, sobald sie nicht so bewundert werden, wie sie glauben, es verdient zu haben.
Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive sind narzisstische Phasen im Leben eines Kindes nicht nur normal, sondern für die Entwicklung einer stabilen Psyche sogar wichtig. Dieser normale oder gesunde Narzissmus hilft dabei "Zukunftsperspektiven zu entwickeln, einen Glauben an sich und den eigenen Wert zu haben und Autarkie [zu erlangen], also die Fähigkeit, eigene Pläne zu entwickeln und umzusetzen", schreiben die Psychiater Michael Lipp und Anne Karow in einem Fachartikel zu Narzissmus im Kindes- und Jugendalter.
Aus diesem Grund sind Fachleute sehr vorsichtig mit der Narzissmus-Diagnose bei Kindern und Jugendlichen. Zwar wird der Beginn von Persönlichkeitsstörungen in der frühen Kindheit verortet, die sich während des Heranwachsens manifestiert. Die Diagnose der Persönlichkeitsstörung wird allerdings oft erst im Erwachsenenalter getroffen.
Wie zeigt sich Narzissmus bei Kindern?
Trotzdem ist es wichtig, übersteigerte narzisstische Tendenzen des eigenen Kindes zu erkennen, nicht nur, weil der größenwahnsinnige, ständig um Aufmerksamkeit buhlende Nachwuchs für Eltern, Lehrer und Gleichaltrige extrem anstrengend ist.
"Narzisstisch zu sein macht nicht glücklich", sagt Eddie Brummelman. Er ist Entwicklungspsychologe an der Universität Amsterdam und erforscht, wie sich die Selbstwahrnehmung von Kindern entwickelt. Wer zu Narzissmus bei Kindern recherchiert, kommt an Eddie Brummelman nicht vorbei.
"Narzissten fragen sich ständig 'Was denken die Leute von mir?' Ihr Selbstwertgefühl schwankt extrem, weil sie auf die Bewunderung von Außen angewiesen sind und sich ständig als jemand Besonderes inszenieren müssen", sagt er. Für Eltern ist es wichtig zu erkennen, dass ihr Kind dadurch unter enormem Stress steht.
Narzissmus steht außerdem in direktem Zusammenhang mit aggressivem Verhalten, wie eine Meta-Analyse von Sophie Kjaervik und Brad Bushman von der Ohio State University zeigt. Deshalb ist es wichtig, möglichen Ursachen für das narzisstische Verhalten des Kindes früh auf den Grund zu gehen. Wie andere Persönlichkeitsmerkmale auch, seien narzisstische Züge zumindest teilweise erblich, betont Eddie Brummelman.
Sie können aber auch das Resultat bestimmter Erziehungsmethoden sein. Brummelman hat dazu im Jahr 2015 eine Studie mit 565 Kindern und ihren Eltern durchgeführt. Der Entwicklungspsychologe und sein Team überprüften in der Untersuchung zwei zentrale Thesen zum Ursprung von Narzissmus.
Talentierter, intelligenter, narzisstischer
Eltern werten ihre Kinder über alle Maßen auf und ziehen sich so Narzissten heran. Das ist die eine Theorie. Die andere besagt, dass Kinder mit narzisstischem Verhalten reagieren, wenn sie von ihren Eltern abgewertet und kalt behandelt werden. Brummelmans Studienergebnisse stützen die erste Theorie: Kinder, die von ihren Eltern in den Himmel gelobt werden, entwickeln eher narzisstische Züge.
"Diese Eltern empfinden ihr Kind als talentierter, intelligenter und fähiger als andere Kinder", sagt Brummelman. Entsprechend hoch sind die Maßstäbe, die das Kind erfüllen soll. Hier sieht Brummelman ein weiteres Problem: "Die Liebe für das eigene Kind ist an Bedingungen geknüpft. Schafft es das Kind nicht, den elterlichen Erwartungen zu entsprechen, müssen sie fürchten, dass die Eltern enttäuscht sind oder sich sogar für ihr Kind schämen."
Ein Kind, das ständig überschätzt oder dazu gedrängt wird, besonders hervorzustechen, erhalte im Wesentlichen drei Botschaften, sagt der Entwicklungspsychologe: Ich bin besser als andere. Es ist wichtig, dass ich mich von anderen abhebe und auffalle. Ich werde nicht wertgeschätzt als die Person, die ich wirklich bin, sondern nur für meine Leistungen.
Die narzisstische Persönlichkeit, die sich daraus entwickelt, hat kein stabiles Selbstwertgefühl - im Gegenteil.
Natürlich halten alle Eltern ihre Kinder für ganz besonders großartig - das ist auch in Ordnung! "Die bedingungslose Wärme und Zuneigung von Eltern sind für ein stabiles Selbstbewusstsein wichtig", sagt Brummelman. Auch gegen Lob sei nichts einzuwenden - wenn es sich um ein einigermaßen realistisches Feedback handelt.
Grenzen setzen und Streit aushalten
Anstatt die Leistungen des eigenen Kindes ständig mit denen anderer zu vergleichen, sollten Eltern lieber bei der Entwicklung des eigenen Kindes bleiben und einen zeitlichen Vergleich anstellen, nach dem Motto: Schau mal, was du letztes Jahr noch nicht geschafft hast und heute kannst!
Der Meinung ist auch Renate Schepker. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und kennt Kinder und Jugendliche mit übersteigertem narzisstischen Verhalten aus dem Klinikalltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Eltern können stolz sein und diesen Stolz auch äußern, wenn ihr Kind etwas Neues schafft und gelernt hat."
Problematisch werde es dann, wenn Eltern Erwartungen an ihre Kinder hätten, die dem Entwicklungsstand nicht mehr angemessen seien und es versäumten, Grenzen zu setzen. "Zu einer guten Erziehung gehört eine gewissen Streitkultur", sagt Schepker.
"Kinder müssen es aushalten, wenn auch Eltern mal einen schlechten Tag haben oder zu ihren Kindern sagen 'Ich finde dein Verhalten heute unerträglich - das kannst du doch besser!'." Umgekehrt müssten die Kinder ihren Eltern das Gleiche sagen können. "So erfahren Kinder, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen und dass sie auch mit diesen Fehlern angenommen werden", sagt die Therapeutin.
Wenn das narzisstische Verhalten des Nachwuchses zu Problemen in der Schule oder mit Freunden führt, weil die Heranwachsenden glauben, soziale Regeln und Anforderungen gelten vielleicht für andere, aber nicht für sie, kann eine Therapie hilfreich sein. "Zu jeder Kindertherapie gehört auch eine Elternberatung", sagt Schepker. Nicht selten werde in diesem Zusammenhang deutlich, dass auch die Eltern selbst therapeutisch Unterstützung gebrauchen können.
"In Konflikten mit den Kindern tauchen oft Themen aus der eigenen Kindheit auf, die unbearbeitet geblieben sind", sagt Renate Schepker. Das passiere gar nicht so selten.