1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Hilfsorganisationen: Lage in Afghanistan ist ein Desaster

15. August 2023

Afghanistan zwei Jahre nach Rückkehr der Taliban: Unterdrückung, Hunger, Rechtlosigkeit. Hilfsorganisationen zeichnen ein düsteres Bild. Frauen trifft es besonders schlimm.

Mann mit Sturmgewehr, weitem Gewand und blauer Kopfbedeckung steht links im Bild mit Sturmgewehr, rechts läuft eine verschleierte junge Frau vorbei und schaut ihn an, im Hintergrund Geschäfte und Passanten
Herrschaft mit Sturmgewehr: ein Taliban-Kämpfer steht WacheBild: Ebrahim Noroozi/AP/dpa/picture alliance

Nach dem chaotischen Abzug der westlichen Militärmächte aus Afghanistan vor zwei Jahren hatten viele die Hoffnung, dass sich die Taliban mäßigen würden. Doch die Radikalislamisten setzen nach der Rückkehr an die Macht ihre Terrorherrschaft fort: Sie unterdrücken Frauen, Journalisten und Kritiker. Viele Menschen hungern. Hilfsorganisationen schlagen Alarm, auch weil - wegen des Krieges gegen die Ukraine - das Schicksal der Afghaninnen und Afghanen zunehmend in Vergessenheit gerate.

Hunger und Armut bestimmen das Leben in Afghanistan - Essensausgabe in KabulBild: DW

Nach Angabe des Welternährungsprogramms (WFP) gehört Afghanistan heute zu den am stärksten hungergefährdeten Ländern weltweit. Auch, weil nach dem Auslaufen des ukrainisch-russischen Getreideabkommens immer weniger Nahrungsmittel verfügbar sind. Vor allem in den Städten seien in den vergangenen zwei Jahren immer mehr Menschen in die Armut getrieben worden, berichtete die Sprecherin der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC), Samira Sayed Rahman, kürzlich dem Evangelischen Pressedienst.

 

In Kabul habe sie vor Bäckereien noch nie so viele bettelende Menschen gesehen wie zuletzt, sagte Rahman. Nach Angaben des IRC benötigen 30 Millionen Menschen - drei Viertel der Bevölkerung - dringend humanitäre Hilfe. Die Vereinten Nationen melden, dass vier Millionen Menschen akut unterernährt seien, darunter 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren.

Afghanistan: Systematische Unterdrückung von Frauen

02:14

This browser does not support the video element.

Entrechtet und unterdrückt: Mädchen und Frauen in Afghanistan

"Die Taliban haben die Rechte von Mädchen und Frauen in nahezu allen Lebensbereichen sukzessive und systematisch abgeschafft." Zu diesem Urteil kommt die Menschenrechtorganisation Amnesty International. Die "systematische Entrechtung" von Frauen und Mädchen komme "möglicherweise einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich", erklärte Amnesty. 

Seit März 2022 dürfen Mädchen die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen. "Berichten zufolge soll in manchen Provinzen nun sogar der Besuch der Schule schon ab dem zehnten Lebensjahr verboten werden", sagt Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. Ein Studium sei für Frauen tabu. Seit August 2021 schließen die Taliban Mädchen und Frauen vom öffentlichen Leben weitgehend aus. Frauen sind gezwungen, sich in der Öffentlichkeit zu verhüllen, dürfen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen.

Ende Juli 2023 mussten Schönheitssalons wie dieser in Kabul schließen – oft waren sie Rückzugsorte und Treffpunkte für FrauenBild: ALI KHARA/REUTERS

Willkür und Unterdrückung - auch ehemalige Ortskräfte sind bedroht

Amnesty International zufolge schweben Menschenrechtsverteidiger, Aktivistinnen und Aktivisten und Angehörige von Minderheiten nicht selten in Lebensgefahr. "Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen sind seit zwei Jahren vielerorts an der Tagesordnung", erklärte die Organisation zum zweiten Jahrestag der Taliban-Rückkehr.

Ohne afghanische Ortskräfte wäre auch die Arbeit der Bundeswehr nicht möglich gewesen (Masar-i Scharif, Dezember 2014)Bild: Can Merey/dpa/picture alliance

Betroffen von der verheerenden humanitären Lage sind auch zahlreiche ehemalige Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen und des westlichen Militärs im Lande. Viele von ihnen warten immer noch darauf, ausreisen zu können. Auch Hilfskräfte, die für deutsche Organisationen oder die Bundeswehr gearbeitet haben, sind betroffen. Zwar konnten – nach Angaben des Bundesinnenministeriums – seit Mai 2021 rund 30.000 afghanische Ortskräfte und weitere besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen ausreisen. Doch immer noch warten - nach Angaben von Amnesty - rund 12.000 Menschen auf eine Ausreise nach Deutschland.

Land ohne Pressefreiheit

Ohne freie Presse gibt es keine freie Gesellschaft. Aber die Taliban wollen keine freie Gesellschaft und somit auch keine freie Presse. Viele Journalisten hätten ihre Posten verloren oder seien geflohen, heißt es bei der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Die Taliban duldeten keinen Widerstand gegen ihre Politik. Die Folge: "Mehr als 80 Prozent der afghanischen Journalistinnen und Journalisten mussten seit Mitte August 2021 ihre Arbeit aufgeben", berichtet die Organisation weiter. Dennoch: Afghanische Journalistinnen und Journalisten würden "trotz schwierigster Bedingungen" weiter recherchieren. Obwohl ihnen Schikane, Verfolgung oder eine Festnahme drohe, so ROG.

Die Welthungerhilfe plädiert für einen Dialog mit den TalibanBild: Lukas Schulze/dpa/picture alliance

Der Appell: Afghanistan nicht vergessen!

Afghanistan ist ein Land am Abgrund. Ein Land, über das – im Schatten des Krieges gegen die Ukraine – immer weniger berichtet werde, beklagen die Hilfsorganisationen. "Afghanistan ist in vielerlei Hinsicht vom Radar verschwunden" sagt IRC-Sprecherin Samira Sayed Rahman. Hilfsprogramme seien oft unterfinanziert, beklagt sie. Und der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (Venro) fordert, trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen vor Ort die Versorgung mit Hilfsgütern für die afghanische Zivilbevölkerung nicht abreißen zu lassen. "Sonst stehen wir wieder vor einer massiven Hungersnot, die im vergangenen Jahr gerade noch vermieden werden konnte", sagte Martina Schaub, Vorstandsvorsitzende von Venro.

Die Welthungerhilfe plädiert für ein pragmatisches Vorgehen: "Der Westen muss mit den Taliban stärker ins Gespräch kommen", sagt die Asien-Regionaldirektorin Elke Gottschalk. Für die notleidende Bevölkerung könne nur zusammen mit den Taliban etwas erreicht werden.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen