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Politik

"EU-Regierungen machen Seenotrettung unmöglich"

7. Dezember 2018

Die Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und "Ärzte ohne Grenzen" werden ihren Rettungseinsatz im Mittelmeer beenden. Der Druck sei zu groß geworden, sagt ÄoG-Geschäftsführer Florian Westphal im DW-Interview.

Frankreich 2018 Rettungsboot Aquarius im Hafen von Marseille
Bild: Getty Images/AFP/B. Horvat

Etwa 30.000 Migranten hat das Rettungsschiff "Aquarius" auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt. Jetzt wird die Mission beendet, der politische Druck sei zu groß, sagen die Betreiber. Geschäftsführerin Verena Papke sprach von einem "Armutszeugnis für Europa". Allerdings wolle man mit einem anderen Schiff "sobald wie möglich" zu neuen Einsätzen auslaufen. SOS Méditerranée betreibt das Schiff gemeinsam mit Ärzte ohne Grenzen. Derzeit liegt die "Aquarius" in Marseille vor Anker.

DW: Herr Westphal, Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranée sehen sich gezwungen, den Einsatz des Rettungsschiffes "Aquarius" im Mittelmeer zu beenden. Wie geht es Ihnen, wie geht es Ihrem Team nach dieser Entscheidung?

Westphal: Wir sind schon sehr enttäuscht und machen uns große Sorgen. Denn letztlich bedeutet das Verbot aller Wahrscheinlichkeit nach, dass mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken werden und mehr Menschen in die wirklich üblen Zustände in den Internierungslagern in Libyen zurück gezwungen werden. Das ist schon sehr ernüchternd und enttäuschend.

DW: Wie steht es um die Situation in den libyschen Flüchtlingslagern?

Wir sind in Libyen in mehreren offiziellen Internierungslagern tätig. Dort werden mehrere tausend Flüchtlinge festgehalten. Die Bedingungen dort sind sehr schlimm. Einige dieser Lager sind absolut überfüllt. Es gibt oft nicht ausreichend sauberes Wasser. Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Unsere Teams treffen auch immer wieder auf Menschen, die dort inhaftiert sind, die gefoltert und misshandelt wurden, die Opfer von sexueller Gewalt und Zwangsarbeit geworden sind. Man darf nicht vergessen, dass diese Menschen keine Verbrecher sind, sondern nur nach Libyen geflohen sind. Doch dann werden sie willkürlich und ohne jeden Anschein eines wirklichen legalen Prozesses festgesetzt.

"Ärzte ohne Grenzen"-Geschäftsführer Florian WestphalBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

In ihrer Pressemitteilung beklagen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen auch nicht allzu erfreuliche Erfahrungen mit dem EU-Staaten. Was ist passiert?

Wir haben verschiedene Anstrengungen seitens europäischer Regierungen gesehen, den humanitären Akt der Seenotrettung unmöglich zu machen. So haben es uns etwa die italienische und die maltesische Regierung, aber auch andere Staaten letztlich unmöglich gemacht, mit der Aquarius sichere Häfen anzulaufen, um die geretteten Menschen dort an Land zu bringen. Ich erinnere etwa an die Irrfahrt der Aquarius im Sommer mit mehreren hundert Menschen an Bord. Schließlich durfte sie dann in Valencia anlanden. Der letzte Schritt einer ganzen Reihe von Hindernissen, die uns von europäischen Regierungen in den Weg gelegt wurden, war die geradezu abstrus anmutende Klage durch einen italienischen Staatsanwalt. Man beschuldigte uns, uns bei illegaler Müllentsorgung bereichert zu haben. Da ist schon sehr viel politischer Vorsatz dahinter.

In Ihrem Pressemitteilung werfen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen der EU eine kurzsichtige Migrationspolitik vor. Was genau meinen Sie?

Die Politik der EU ist insofern kurzsichtig, als sie zur Folge hat, dass aller Wahrscheinlichkeit nach weiter Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken werden - und das, obwohl man dagegen etwas tun könnte. Dieses Jahr sind schon mehr als 2100 Menschen ertrunken. Gleichzeitig werden mehr Menschen zurück nach Libyen gebracht. Diese Politik ist kurzsichtig, weil sie auf längere Sicht auch global den Schutz von Menschen auf der Flucht weiter schwächen wird. Europa setzt hier ein Negativbeispiel. Leider dürften andere Länder diesem Beispiel folgen. Dadurch dürfte ein wichtiger Pfeiler des internationalen Rechts, nämlich die Flüchtlingskonvention von 1951, untergraben werden. Sie sieht vor, dass Menschen, die sich in einer Situation wie etwa die in Libyen Inhaftierten befinden, einen Anspruch auf Sicherheit, Schutz und menschenwürdige Behandlung haben. Eben darum wollen diese Menschen aus Libyen fliehen. Der Weg über das Meer nach Europa ist für sie der einzige Ausweg aus den grauenvollen Bedingungen, denen sie in Libyen ausgesetzt sind.

Flüchtlinge in einem Internierungslager im libyschen KararimBild: picture-alliance/AP Photo/M. Brabo

Nun wird der Seenotrettung vorgeworfen, sie löse einen Pull-Faktor aus. Weil die Schiffe im Mittelmeer kreuzten, wagten immer mehr Menschen die Überfahrt. Was sagen Sie dazu?

Das ist letztlich durch die Fakten widerlegt. Seit diesem Sommer ist so gut wie kein ziviles Rettungsschiff mehr auf dem Mittelmeer tätig - und trotzdem gehen die Fluchtversuche aus Libyen weiter. Denn in Libyen sind die Zustände für geflüchtete Menschen unerträglich. Die Menschen werden weiter versuchen, von dort zu fliehen.

Wie legitimieren Sie Ihre Aktionen, juristisch oder politisch?

Die Seenotrettung ist im internationalen Recht verankert. Seitdem Menschen Seefahrt betreiben, gibt es die rechtliche und moralische Verpflichtung, Menschen in Seenot zu helfen. Das ist ein humanitärer Akt. Er entspricht dem, was an Land bei jedem Verkehrsunfall üblich ist, nämlich Erste Hilfe zu leisten. Für uns handelt es sich um einen Akt, der zutiefst den humanitären Prinzipien entspricht.

Ein Einwand gegen die Seenotrettung lautet, die Menschen bewegten sich allzu leichtfertig auf hohe See, oft in fahruntüchtigen Booten. Sie provozierten ihr Schicksal selbst, so der Vorwurf.

Diese Menschen fliehen nicht aus freier Wahl. Sie fliehen vor willkürlicher Inhaftierung, Misshandlung und Drangsalierung durch Schlepperbanden. Diese Menschen können sich auch nicht aussuchen, auf welchem Boot sie fliehen. Vielmehr werden sie auf ein Boot gebracht, und das sticht dann in See. Hört man diesen Menschen zu, dann versteht man, dass das Gros von ihnen überhaupt keine Wahl hatte.

Wir erleben in Europa einen Aufstieg rechter Parteien. Der hängt offenbar auch mit der verstärkten Migration zusammen. Riskiert die zivile Seenotrettung nicht, diesen Parteien indirekt zuzuspielen?

Wir verfolgen keinen politischen Ansatz, sondern retten Menschen vor dem Ertrinken. Das ist eine rein humanitäre Aktion. Was uns in diesem Zusammenhang wirklich enttäuscht, ist, dass auch die Bundesregierung sich geweigert hat, humanitäre Hilfe auf dem Mittelmeer zu unterstützen. Eigentlich sollte es überhaupt keine zivile Seenotrettung durch NGOs auf dem Mittelmeer geben müssen. Die Rettung sollte ganz in der Verantwortung der Europäischen Union liegen. Die Staaten sollten mit all ihren Schiffen, mit ihren Küstenwachen und Ressourcen die Rettung übernehmen - als klares Zeichen des Eintretens für das, was Europa ja immer wieder als seine Werte in Anspruch nimmt, nämlich Schutz und Hilfe für die Schwächsten.

Zu späte Hilfe: die Leichen zweier Flüchtlinge auf einem zerrissenen Schlauchboot im Mittelmeer, Juli 2018 Bild: Reuters/J. Medina

Wie geht es jetzt weiter für Sie und Ihr Team? Was planen Sie?

Konkrete, spruchreife Pläne haben wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wir werden auf jeden Fall weiter nach Wegen suchen, Menschen in Seenot zu helfen, trotz der sehr schwierigen Umstände. Wir werden auch weiterhin das Leiden dieser Menschen und die Tausenden von völlig vermeidbaren Todesfällen anprangern und alles uns Mögliche tun, um diesen Menschen Rettung und medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

Das Interview führte Kersten Knipp.

Florian Westphal ist Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen" in Deutschland. Zusammen mit "SOS Méditerranée" betrieb das Rettungsschiff "Aquarius" im Mittelmeer.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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