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Glaube

Hinter den Kulissen der Rituale sind Werte verborgen

29. März 2018

Ohne Rituale wären unsere christlichen Feste leer und würden in unserem Alltag kaum Wurzeln schlagen können. Aber an die Bedeutung der Rituale kommen wir erst, wenn wir den Blick hinter ihre Kulisse wagen.

Ostereier
Bild: Fotolia/realjuju

Sie ist bald drei Jahre alt. Unsere Enkelin erlebt zum ersten Mal bewusst das Osterfest. Die Aufregung vor dem Fest gehört selbstverständlich dazu. Bei jedem Telefonat ist es ihr wichtig, zu erzählen, dass sie mit ihrer Mutter mit Ostereiermalen beschäftigt ist. Da verschwindet schnell der Gedanke, dass sie uns damit eigentlich überraschen wollte, wenn sie am Karsamstag zu Besuch kommen. Aber was soll’s? Zum bewussten Erleben gehört in erster Linie, dass mit Leidenschaft eins der wichtigsten Rituale gelebt und erlebt wird. Und dieses Erleben ist viel größer und überwältigender als der abstrakte Gedanke, die Großeltern zu überraschen.

Ja, die Rituale. Darauf kommt es an. Ohne Rituale wären auch unsere christlichen Feste leer und würden in unserem Alltag kaum Wurzeln schlagen können. Wenn die religiösen Feste aber lebensfern werden, verlieren sie ihre gestalterische Kraft in Bezug auf das Leben des Menschen. Andererseits, an die Bedeutung der Rituale kommen wir erst, wenn wir den Blick hinter ihre Kulisse wagen.

Wie war ich froh, in den letzten Tagen zu lesen, dass die zwei großen christlichen Kirchen in Deutschland mit Blick auf Ostern die Versöhnung als Zukunftsvision hervorhoben. Sie rückten das Osterfest und mit ihm die Versöhnung in die Mitte unserer Gegenwart. Sie stellten unsere Zukunftsfähigkeit in engster Verbindung mit unserer Bereitschaft, die Versöhnung zu unserem Lebensmittelpunkt zu erklären. Sie erinnerten mich daran, dass hinter den liebenswürdigen Ritualen mit der Enkelin noch mehr steckt. Da sind Ziele für unsere gemeinsame Zukunft, da sind Verheißungen, die Gott uns Menschen in Aussicht gestellt hat. Schon von Anfang an, als er den Menschen nicht als individuelles Wesen, sondern als Gemeinschaft erschuf.

Bild: Public Domain

In der Tat, Ostern ist ohne Versöhnung nicht denkbar. Christus hat uns mit Gott versöhnt und die Versöhnung damit zu einer Grundlage für die Beziehungsfähigkeit des Menschen gemacht. In dieser Versöhnung wird Gottes Nähe zu einer erlebbaren Realität. Die Kindschaft zu Gott ist keine bloße Idee, sondern eine Einladung zu einer Lebensweise. Sie lädt dazu ein, die Versöhnung mit dem Mitmenschen zu einem Lebensziel zu machen.

Gestern erst fragte ein Bekannter mich, wie ich Ostern in meiner Kindheit in Kamerun erlebt habe. Diese Frage jedoch wollte ich nicht als Aufforderung verstehen, über die Osterrituale in meiner Heimat Kamerun zu erzählen. Ich machte sofort den Sprung in die Hintergründe. Ich wagte den Blick hinter die Kulisse der Rituale. Und der erste Begriff, der mir einfiel, war eben der Begriff der Versöhnung. Mag sein, dass mir dieser Begriff besonders nahe liegt, wenn ich mich mit meiner kamerunischen Identität auseinandersetze. Das Versöhnungsritual stand im Mittelpunkt des religiösen Systems meiner Volksgruppe „Betí.“ Es war das Ritual, für das mehrmals im Jahr alle Arbeiten liegengelassen wurden und die Dorfgemeinschaft tagelang zusammensaß. Das war vor dem Zeitalter der Christianisierung der gemeinten Volksgruppe. Hinzu kommt, dass mein Vater der letzte Zeremonienmeister des Versöhnungsrituals in unserer Gegend war. Hier also suchte ich meinen persönlichen Zugang zum Osterfest. Ein seltsamer, ein gewagter Umweg für einen evangelischen Theologen. Aber ich entdeckte tatsächlich eine neue Dimension dieses Festes für mich. Es ist auch Einladung zur Versöhnung mit meinen nichtchristlichen Vorfahren. Und somit auch Versöhnung mit meiner eigenen Vergangenheit, meiner Geschichte, die in mich eingeflossen und Teil von mir selbst geworden ist.

Im Lebenskonzept meiner Vorfahren spielte offensichtlich die Versöhnung eine entscheidende Rolle, auch vor ihrer Christianisierung. Ich will hier nicht die Frage erörtern, warum sie ihr eigenes religiöses System durch das christliches ersetzen mussten, bzw. warum ihnen das Versöhnungsritual verboten wurde. Diese Frage, die auch ihren Platz in unseren Debatten finden muss ist in diesem Beitrag nicht relevant. Aber dadurch, dass die Versöhnung auch im christlichen Kontext ein solches Gewicht hat, wird sie für mich zu einer Brücke. Und so macht mich dieser Begriff neugierig. Er kann ja nicht ohne Grund in die zentralen Rituale unterschiedlicher Kulturen aufgenommen worden sein. Die Aufnahme in die Rituale werte ich als Hinweis, dass hier ein Wert besonders bedeutsam werden musste und in den Lebensrhythmus eingebettet werden sollte.

Es ist festzustellen, dass mit der Versöhnung nicht nur ein elementares Bedürfnis des Menschen ausgedrückt wird, sondern der Zusammenhalt einer Gesellschaft ermöglicht wird. Und dieser Zusammenhalt kann wohl als Metapher für die Universalität verstanden werden, in der wir uns sehen. Ja, Gott stellt uns in einen Bogen hinein, in dem Ursprung und Ende in einer Einheit gesehen werden können. Ein christlich verantwortbarer Begriff der Grenzenlosigkeit wird selbstverständlich. Die Ganzheit und die Unendlichkeit als Ausdrücke des Wesens Gottes werden zur eigentlichen Heimat des Menschen gemacht.

Besonders schön ist zu bemerken, dass der Mensch mit der Ritualisierung auch die Kontinuität sichert für die Idee, die hinter dem Ritual steht. Die Versöhnung als Wert scheint bei den Betí nicht verhandelbar zu sein, ebenso wie im Christentum nicht. Sie muss in allen Zeiten ihre Zukunftsfähigkeit behalten. So ließ sie sich einst in Rituale einbetten.

Es ist erleichternd, einen Zugang zu sich zu finden und sagen zu können, mit der Enkelin werden wir die Versöhnung feiern. Versöhnung mit Gott, mit dem Nachbarn, mit unserer Vergangenheit und mit uns selbst.

 

Zum Autor:  Jean Félix Belinga Belinga ist 1956 in Südkamerun geboren und aufgewachsen, studierte Evangelische Theologie in Erlangen (Bayern) und arbeitet als Autor, Journalist und Pfarrer.