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Politik

NATO nicht "hirntot", sondern gesprächsbereit

20. November 2019

Deutschland und Frankreich wollen Experten einsetzen, die Reformvorschläge für die NATO entwickeln. Die heftige Kritik aus Frankreich hat wachgerüttelt, meint US-Botschafterin Hutchinson. Aus Brüssel Bernd Riegert.

Brüssel | NATO Treffen in Brüssel
Die NATO lebt: Le Drian (li.), Stoltenberg (Mi.) und Maas vereinbaren eine ArbeitsgruppeBild: Reuters/F. Lenoir

Zwei Wochen vor der geplanten Party zum 70. Geburtstag hängt der Haussegen schief bei der NATO. Eigentlich wollten die 29 Staats- und Regierungschefs der Allianz bei ihrem Treffen in London die Einzigartigkeit ihres Bündnisses würdigen, das im April 1949 in Washington gegründet worden war. Doch heute mussten sich die Außenminister der NATO mit der Kritik aus Frankreich beschäftigen, wonach das traditionell von der stärksten Militärmacht USA dominierte Bündnis "hirntot" sei.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte in einem Interview des "Economist" Anfang November beklagt, dass die USA "sich in strategischen Fragen sehr schnell von Europa abwenden." Das hätte, so Macron, vor wenigen Jahren, also vor dem Amtsantritt des sprunghaften amerikanischen Präsidenten Donald Trump, niemand für möglich gehalten. Dass die USA sich abrupt aus Nordsyrien zurückzogen und dem NATO-Partner Türkei schließlich den Einmarsch in Nordsyrien mit Hilfe des NATO-Gegners Russlands erlaubten, ist für den französischen Präsidenten Macron der letzte Beweis, dass die USA Europa nicht mehr ernst nähmen.

Präsidenten Trump (li.) und Macron (re.): Rolle der NATO umstritten (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Kritik an Macrons NATO-Schelte

Die übrigen NATO-Partner in Brüssel hätten sich vor allem über die Wortwahl des französischen Präsidenten aufgeregt, berichten NATO-Diplomaten. Denn jemand, der hirntot sei, sei nicht mehr zu retten. "Da können Sie nur noch die Organe entnehmen", meinte einer. Emmanuel Macron hatte außerdem bezweifelt, ob die Beistandsgarantie nach Artikel 5 des NATO-Vertrages noch funktionieren würde. Diese Aussage wird von vielen altgedienten NATO-Diplomaten als direkter Angriff auf den Kern des Verteidigungsbündnisses gewertet.

Die amerikanische NATO-Botschafterin Kay Bailey-Hutchinson sagte der DW, die USA stünden zur Beistandsgarantie. "Wer Artikel 5 infrage stellt, stellt den Kern der NATO infrage", meinte die Botschafterin. "Der französische Präsident liegt falsch, wenn er sagt, das Bündnis sei hirntot. Wenn er einen Dialog beginnen möchte, kann er einen Dialog haben... Aufrütteln ist in Ordnung, aber jetzt müssen wir reden."

US-Botschafterin Bailey Hutchison: Wir müssen redenBild: DW/T. Schultz

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der erst letzte Woche beim US-Präsidenten zum Rapport in Washington antreten musste, wies die Kritik Frankreichs wiederholt als überzogen zurück. Die NATO sei heute im Gegenteil stärker und lebendiger als je zuvor, behauptet Stoltenberg. Die USA würden sich eben nicht aus Europa zurückziehen, sondern an die von Russland bedrohte Ostflanke mehr Truppen entsenden und dort mehr Manöver abhalten als früher.

Maas und Le Drian wollen Expertenrunde

Sein Vorschlag, einen Arbeitskreis aus Experten zu gründen, der Reformvorschläge machen soll, sei bei den NATO-Kollegen auf Wohlwollen gestoßen, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas nach der Sitzung in Brüssel. "Ich bin ermutigt, dass wir den richtigen Ton getroffen haben", so Maas. Es solle überlegt werden, wie die die NATO konzeptionell und politisch weiter entwickelt werden könnte. Durch die Aktionen der USA in Nordsyrien und die französische Kritik sei eine Unsicherheit entstanden. "Wir müssen das Erfolgsmodell NATO erhalten", sagte Maas. "Es ist nötig, dass eine stärkere politische Koordination in der NATO gibt." Vor dem Geburtstagstreffen in London könne nicht einfach so getan werden, als sei alles in bester Ordnung, hieß es aus Regierungskreisen in Berlin. Die Arbeitsgruppe sollte dann bis zum nächsten regulären NATO-Gipfel Ende 2020 Vorschläge für Reformen und eine bessere Abstimmung im Bündnis vorlegen. Auch der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian schlug eine Arbeitsgruppe vor, die die Koordination in der Allianz verbessern solle. Le Drian will allerdings dem USA-freundlichen Generalsekretär Stoltenberg nicht den Vorsitz der Gruppe überlassen.

Bundesaußenminister Maas: NATO braucht FrischzellenBild: DW/Teri Schultz

Stoltenberg ermahnt Frankreich

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte Frankreichs Präsidenten, die von ihm angestrebte stärkere Einheit der Europäer in der NATO könne die transatlantische Einheit nicht ersetzen. "Jeder Versuch, Europa von Amerika zu entfernen, wird nicht nur das transatlantische Band schwächen, sondern Europa spalten", sagte Stoltenberg in Brüssel. Macron hatte in seinem Interview vor zwei Wochen allerdings betont, dass das Streben der Europäer nach mehr verteidigungspolitischem Gewicht und nach mehr Souveränität nicht als Konkurrenz zur NATO verstanden werden sollte. "Es geht um eine Ergänzung der NATO", sagte Macron. Militärisch sind die USA bei jedem Einsatz innerhalb und außerhalb des NATO-Gebiets aufgrund ihre überragenden Fähigkeiten und Bewaffnung absolut unverzichtbar. Das wisse und akzeptiere auch Frankreichs Präsident, meinten NATO-Diplomaten beim Außenministertreffen.

China und der Weltraum als gemeinsame Interessen

Als Beweis dafür, dass die NATO nicht "hirntot" sei, sondern sich mit realen Problemen und Bedrohungen beschäftigt, führt NATO-Generalsekretär Stoltenberg gleich mehrere Themen ins Feld. Die Außenminister verabschiedeten ein Papier, in dem die sicherheitspolitischen Risiken bewertet werden, die von China ausgehen. China spiele ein immer größer werdende Rolle in Konflikten wie in Syrien oder Afghanistan, die auch NATO-Interessen berührten. Trotzdem solle China noch nicht als "Gegner" oder "Bedrohung" aufgefasst werden, sondern erst einmal beobachtet werden.

Die Außenminister wollten beschließen, den Weltraum als militärisches Operationsgebiet der NATO zu definieren. Es gehe um die Frage, wie tausende Satelliten, die NATO-Staaten im Orbit unterhielten, geschützt werden können. Die NATO, sagte Generalsekretär Stoltenberg wolle, aber keine eigenen Waffen im Weltraum stationieren, sondern erst einmal die Bedrohungen analysieren. Die USA und Frankreich entwickeln bereits Waffen für den Einsatz im All.

Mehr Geld aus Europa

Schließlich präsentierte die NATO als eine Art Geburtstagsgeschenk die jüngste Bilanz über den Zuwachs der Verteidigungsaufgaben. In den letzten vier Jahren hätten Kanada und die europäischen Mitgliedsstaaten rund 100 Milliarden Euro mehr in ihre Verteidigungshaushalte investiert. Der Trend gehe weiter aufwärts. Diese Zahlen sollen vor allem den amerikanischen Präsidenten Donald Trump zufrieden stellen, der bei vorangegangenen NATO-Treffen stets Rechnungen aufgemacht hatte, nach denen die USA "unfair" behandelt würden und zu viel für die Verteidigung der Europäer zahlten. Trotz des Zuwachses ist Deutschland vom vereinbarten Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr auszugeben, noch entfernt. Im nächsten Jahr liegt die Quote bei 1,43 Prozent. Zwei Prozent werden nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erst 2031, mit sieben Jahren Verspätung, erreicht werden. 

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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