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Literatur

Die Suche nach dem Vater

Claudia Kramatschek Qantara.de / spe
20. November 2017

Er ist 9, als er seine Heimat und 20, als er den Vater verliert. Für sein Buch über eine jahrzehntelange Suche nach dem Verschollenen wurde der libysche Autor Hisham Matar mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.

Hisham Matar
Bild: picture alliance/Photoshot

Zum 38. Mal wurde am Montag in München der Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Gewürdigt werden damit Autoren, die "mit ihren jüngeren Werken bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse geben". Der Preis wird vom Landesverband Bayern im Börsenverein des Deutschen Buchhandels zusammen mit der Landeshauptstadt München vergeben. In den letzten Jahren hatten unter anderem der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe und der chinesische Exil-Autor Liao Yiwu den Preis erhalten.

DreiBücher hat Hisham Matar veröffentlicht, und alle drei sind autobiografisch geprägt. In "Die Rückkehr" stellt sich Hisham Matar – der 1970 in New York zur Welt kam, aber in Tripolis aufwuchs – den Gespenstern der Vergangenheit: dem Vater, der verschwunden ist; der enteigneten Geschichte des Landes und den gescheiterten Träumen eines neuen Libyens. Dafür erhielt der in London und New York lebende Autor im April dieses Jahres den Pulitzer Prize in der Kategorie "Biografie oder Autobiografie". Diese höchste amerikanische Auszeichnung für eine journalistische oder schriftstellerische Leistung wird jetzt durch eine deutsche Würdigung ergänzt: An diesem Montag wird der Schriftsteller für sein im Februar 2017 auf Deutsch erschienenes Buch "Die Rückkehr" in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.

"Die Rückkehr" sei ein Buch über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes, heißt es in der Begründung der Jury für den mit 10.000 Euro dotierten Preis des bayerischen Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Kulturreferats der Stadt München. "Die Genauigkeit, mit der Hisham Matar über Gespräche berichtet, in denen so viel ungesagt bleiben musste, schlägt den Leser in den Bann. Alles, was wir über die lange Unfreiheitsgeschichte Libyens erfahren, die nach der Revolution weiterging, ist vermittelt durch den Rückkehrer, der nicht bleiben kann."

Claudia Kramatschek hat den in der Ich-Form geschriebenen, romanhaften Bericht für uns gelesen:

Exil, Erinnerung und eine jahrzehntelange Suche

"Früher Morgen, März 2012. In einer Lounge des Kairoer Flughafens saßen meine Mutter, meine Frau Diana und ich in einer auf den gefliesten Boden geschraubten Sitzreihe. Flug 835 nach Bengasi, verkündete eine Stimme, werde planmäßig starten".

Buchcover "Die Rückkehr: Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater"

Mit dieser Notiz beginnt "Die Rückkehr", das Buch von Hisham Matar. Es ist sein bis dato persönlichstes. Und eben deshalb auch sein bis dato bestes. Wie alle seine Romane kreist "Die Rückkehr" um die schmerzliche Leerstelle, die dem Autor literarischer Antrieb und seelische Bürde zugleich ist: 1979 floh Matar als Achtjähriger mit der Familie aus ihrer Heimat Libyen. 1990 wird der Vater – ein Diplomat, der sich dem Gaddafi-Regime entgegenstellte – aus dem ägyptischen Exil entführt und nach Abu Salim gebracht, in jenes Gefängnis in Tripolis, in dem – so liest man – all jene verschwinden, die das Regime vergessen machen lassen will.

Für Hisham Matar – er ist zu jenem Zeitpunkt neunzehn Jahre alt – wird die Suche nach der Wahrheit, was mit seinem Vater geschehen ist, zu einer lebenslangen Obsession. Immer wieder – auch davon handelt "Die Rückkehr" – und quer durch die ganze Welt folgt er Fährten, die sich als falsch erweisen, hegt er Hoffnungen, die sich zerschlagen.

Auf der Suche nach dem Vater

2012 – die Arabellion hat längst auch Libyen erfasst, Tripolis war August 2011 gefallen, Gaddafi bereits tot – tritt Hisham Matar jene Reise an, die er 33 Jahre lang ersehnt und doch immer gefürchtet hat: Zum ersten Mal fliegt er zurück nach Libyen, nicht zuletzt, um endlich Gewissheit zu erlangen, ob sein Vater noch lebt – oder wann und unter welchem Umständen er gestorben ist.

Ende August 2011 stürmten libysche Rebellen das Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis, in dem Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi auch Jaballa Matar bis 1996 eingekerkert hatteBild: dapd

"Die Rückkehr" ist sein Bericht über diese Reise – und doch zugleich so vieles mehr. Denn das Buch – elegant und raffiniert komponiert – strahlt in diverse Richtungen und Zeiten aus, die Matar zugleich gekonnt ineinander fügt.

Alles beginnt mit jenem Tag, an dem Gaddafi 1969 die Macht an sich reißt. Das Schicksal der Familie ist damit besiegelt: Matars Vater wird zu einem gefährlichen Gegner des Regimes – das er anfänglich, wie viele Männer seiner Generation, als Aufbruch in eine neue politische Ära begrüßt hatte.

Aufschlussreich verknüpft Matar die Figur seines Vaters mit der politischen Geschichte seiner Heimat; eindringlich etwa beschreibt er die 1970er Jahre, in denen er und sein Bruder Ziad mit Klavierunterricht und Besuchen im Schwimmclub von den grausamen Machenschaften eines repressiven Regimes abgeschirmt werden sollten.

Die Lebensgeschichte seines Großvaters wiederum eröffnet Einblicke in jene Zeit, als Libyen unter italienischer Besatzung stand – und man das Land ökonomisch wie seelisch ausbluten ließ. Wer diese Passagen liest, wird mit anderen Augen auf ein Land blicken, das der Westen allzu oft und schon so lange einzig als gescheiterten Staat wahrnimmt.

Libyen 2012 – ein Land auf Messers Schneide

Gescheitert ist – auch in Libyen – vor allem die Arabellion. 2012, als Hisham Matar zurückkehrt, scheint die Möglichkeit einer besseren Zukunft zwar noch mit Händen greifbar – und doch zeichnet sich bereits der Bürgerkrieg, das politische Desaster ab, das auch in Libyen die Hoffnungen der Arabellion zerstören wird: "Ich bin", so Matar, "nie irgendwo gewesen, wo Hoffnung und Besorgnis ähnlich groß waren. Alles schien möglich, und so gut wie jeder, den ich traf, sprach in einem Atemzug von seinem Optimismus und düsteren Vorahnungen."

Die Arabellion ist in Libyen gescheitert. Seit 2013, nur zwei Jahre nach Gaddhafis Sturz, führen rivalisierende Machtgruppen einen zerstörerischen Stellvertreterkrieg. Bild: Getty Images/AFP/A. Doma

Und tatsächlich: Bewaffnete Milizen beherrschen alsbald den Alltag – in einem Land, so schreibt Matar hellsichtig, in dem das Licht einst in den Häusern willkommen war, wird es nun ausgesperrt wie alles andere, das von draußen kommt.

Und noch etwas ist neu: die Wände in der Öffentlichkeit, auf denen man der sogenannten Märtyrer gedenkt. Auch einer seiner Cousins hatte sich dem Widerstand gegen Gaddafi angeschlossen – und ist im Kampf gefallen. Ein anderer wird sich dem syrischen Widerstand gegen Assad anschließen. Ein weiterer Cousin hat sich von einem antriebslosen Staatsanwalt in einen engagierten Verfechter der Menschenrechte in Libyen gewandelt.

Begegnungen in kabbeligem Gewässer

Liebevoll zeichnet Matar die Begegnungen mit all jenen Menschen auf: einstige Freunde seines Vaters, vor allem aber die Angehörigen seiner Familie, die nicht wie er ins Exil gegangen waren, sondern wie sein Vater im Gefängnis saßen, oftmals jahrzehntelang, lange Zeit zudem im selben Trakt.

Es sind – so schreibt er in einer der unzähligen introspektiven Passagen, in denen er die eigene emotionale Nähe mit reflexiver Distanz zu balancieren weiß – Begegnungen in "kabbeligem Gewässer": "Sie wollten mir erzählen, wie das Leben während der langen Zeit im Gefängnis gewesen war, und ich wollte ihnen klarmachen, wie oft ich an sie gedacht hatte. ... Sie wollten mir sagen, dass sie in ihrer Treue zu Vater nicht geschwankt hatten, und ich wollte, dass sie wussten, ich hatte sie nicht vernachlässigt, sondern getan, was ich konnte."

Zu ihnen gehört auch Matars Onkel Mahmoud, der jüngste Bruder seines Vaters. Aus seinem Mund wird Matar erfahren, dass sein Vater höchstwahrscheinlich bei jenem Massaker ums Leben gekommen ist, das 1996 im Gefängnis von Abu Salim an den Gefangenen verübt worden ist – und dessen Spuren das Regime bis 2011 mit unmenschlicher Grausamkeit verschleiert hat. Und doch – so Matar – war dies der Beginn eines erneuten langsamen Widerstands gegen Gaddafi.

Der Sieg der Literatur

So schließt sich, zumindest im Buch, ein Kreis. Manche Türen darin öffnen sich, andere bleiben verschlossen: Matar hat etwa zum ersten Mal erfahren, dass auch sein Vater einst schriftstellerische Ambitionen hegte.

Ermittler des libyschen Übergangsrates fanden 2011 in Tripolis ein Massengrab mit mehr als 1.200 Leichen aus dem Jahr 1996. Zu den Getöteten, Häftlinge aus dem Staatssicherheitsgefängnis Abu Salim, gehörte wahrscheinlich auch Hisham Matars Vater. Das Abu-Salim-Massaker war die grausame Vergeltung des Regimes von Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi für eine Häftlingsrevolte. Bild: dapd

Und doch denkt er, als sein Onkel ihm den Hergang des Massakers schildert, an die Worte des griechischen Telemachs: "Sie handelten vom Wunsch des Sohnes, den Vater für den Rest seiner Tage in der Geborgenheit und Würde seines eigenen Hauses zu wissen, aber auch von dem Wunsch, den Vater zu Hause lassen, sich endlich umdrehen und nach vorne sehen und hinaus in die Welt ziehen zu können. Solange Odysseus vermisst wird, kann Telemach sein Zuhause nicht verlassen. Solange Odysseus nicht zu Hause ist, ist er überall und nirgends."

Der Schriftsteller Hisham Matar hat die Größe, genau diesen Schmerz des Sohnes präzise und ohne wenn und aber zu benennen. An dieser Größe bemisst sich auch die Größe dieses bewegenden Buches. "Die Rückkehr" – das kann man schon heute sagen – wird ein Klassiker: über Väter und Söhne, Heimat und Exil, über Libyen und die gescheiterten Träume der Arabellion. Es ist, kurzum, ein Sieg der Literatur über den Schmerz und die Stärke der vermeintlich Besiegten.

Hisham Matar: "Die Rückkehr: Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater", übersetzt von Werner-Löcher-Lawrence, Luchterhand Literaturverlag Februar 2017, 288 Seiten

 

 

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