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Historische Empfehlung

Alexander Kudascheff8. Oktober 2004

Es war die Entscheidung dieser Kommission, auch wenn sie erst getroffen wurde als die Prodi-Mannschaft bereits - politisch jedenfalls - eine "lame duck" war: Brüssel sagt "Ja" zur Türkei - wahrscheinlich.

Während im Parlament die Anhörungen der neuen Kommissare zu Ende gehen, während klar wird, dass die neue Kommission so aussehen wird wie es sich der bereits gewählte Präsident Jose Barroso vorgestellt hat - obwohl man natürlich niemals Überraschungen ausschließen sollte - hat der herausragende Kommissar der letzten fünf Jahre, der Deutsche Günter Verheugen, zum letzten Paukenschlag ausgeholt. Nachdem er bereits für den Beitritt von zehn neuen Ländern verantwortlich zeichnet, nachdem klar ist, dass durch seine Vorarbeiten in absehbarer Zukunft Rumänien, Bulgarien und Kroatien zur EU stoßen werden, hat er nun die gesamte Architektur der Gemeinschaft im Visier.

Denn mit der Türkei, mit der in absehbarer Zeit Verhandlungen aufgenommen werden können und sollen - das letzte Wort haben hier die europäischen Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember -, kommt ein Schwergewicht in die EU. Das mag fünf, zehn oder mehr Jahre dauern. Aber die Türken werden eines Tages Mitglieder der Union sein, das steht inzwischen fest - außer sie wollen nicht mehr oder die innenpolitische Lage ändert sich dramatisch.

Skepsis und Misstrauen

Geht aber Erdogan seinen Weg so weiter wie bisher - dann gehört 2015 das Land am Bosporus zu Europa. Dann gehört zum ersten Mal ein muslimisches Land zur EU. Dann gehört ein Land zur EU, das sofort das zweitgrößte in der Gemeinschaft ist und - werden weiter so viele Kinder geboren wie bisher - in absehbarer Zeit vielleicht sogar das größte. Dann gehört ein Land zur EU, dem große Teile der Europäer skeptisch bis misstrauisch gegenüberstehen.

Und auch in der Parteienlandschaft der EU ist die Lage unklar und diffus. Denn die Konservativen sind ebenso gespalten wie die Linken, die Liberalen, die Rechten oder die Grünen. Überall gibt es bemerkenswerte Stimmen pro oder contra Türkei-Beitritt. Und dieser Chor wird in den nächsten zehn Verhandlungsjahren den gesamten Prozess begleiten und überschatten. Am Ende, so hofft man in der Türkei, werden die Kritiker überzeugt sein, dass es sich lohnt, die Türkei aufzunehmen. Und, so hofft man in Europa, wird die Türkei ein anderes Land, ein anderer Staat mit einer anderen Mentalität sein - als heute.

Alles klar - oder?

Sicher ist auch: Die Summen , die manchmal genannt werden, sind ökonomisches Spielmaterial. Niemand kann sich vorstellen, dass die EU bis zu 27 Milliarden Euro netto an die Türkei jährlich überweist - für Berlin allein wären das übrigens an die sechs Milliarden. Also sind die sehr hohen wie die gelegentlich genannten sehr niedrigen Zahlen Makulatur. Denn was die Türkei erhält, entscheidet die EU selbst. Zwar nicht als Diktat, aber eben als Angebot.

Und ganz zum Schluss - das scheint doch inzwischen auch festzustehen - werden in einzelnen Ländern Referenden abgehalten werden. Unter anderem in Frankreich. Zur Stunden lehnen rund 56 Prozent der Franzosen den Beitritt der Türkei ab. In zehn Jahren können das mehr, genauso viele oder auch weniger sein. Aber sie entscheiden. Somit erlebt Europa nun den Beginn einer europäischen Diskussion. Ein großes Ziel wird zum ersten Mal nicht hinter dem Rücken der Völker angestrebt und verwirklicht - sondern nur mit Zustimmung der Völker. Das ist ein Novum - zeigt aber die Bedeutung der wahrlich historischen Empfehlung von Brüssel. Entschieden wird erst im Dezember. Aber nach dem Ja von Verheugen - steht ein Ja vom europäischen Rat fest. Eigentlich.