Hitlers erster Krieg
15. März 2014Selten lagen Triumph und Scheitern so nah beieinander wie auf dem ikonischen Foto aus dem Herbst 1938. Als der britische Premierminister Neville Chamberlain mit dem Flugzeug in London landete und so bildmächtig mit dem Münchner Abkommen winkte, atmete die Welt auf. Er bringe "Frieden für unsere Zeit", rief Chamberlain später der Presse zu. In dem Münchner Abkommen verpflichtete sich das Deutsche Reich, auf weitere Gebietsforderungen im Osten zu verzichten. Die Tschechoslowakei hatte zwar das Sudetenland verloren, so das damalige Argument, aber Europa den Frieden gewonnen. Hitler sei ein Mann, dem man vertrauen könne, erklärte Chamberlain im kleinen Kreis. Er hatte sich getäuscht.
Schon ein halbes Jahr später, am 14. März 1939, sitzt der Präsident der Tschechoslowakei im Zug nach Berlin. Emil Hácha, ein älterer, kränklicher Mann, ist so geschwächt wie das Land, das er nur noch wenige Stunden regieren wird. Hácha und sein Außenminister sind auf dem Weg zu jenem "vertrauenswürdigen" Mann, der im Stillen längst die Eroberung Europas plant: Adolf Hitler.
"Hitler war über das Münchner Abkommen nicht sehr erfreut", sagt der Historiker Detlef Brandes. Statt die gesamte Tschechoslowakei besetzen zu können, wie er es wollte, habe sich Hitler mit dem Sudetenland bescheiden müssen. "Die Nationalsozialisten haben dann die Tschechoslowakei stark unter Druck gesetzt. In einigen Politikbereichen, auch gegenüber den Juden, hat sie nicht so agiert, wie Hitler das forderte."
Die angeblich tausendjährige Geschichte
Im Oktober 1938, schon wenige Tage nach dem Münchner Abkommen, befiehlt Hitler den Spitzen der Wehrmacht eine Invasion vorzubereiten. Immer wieder beschwört die NS-Propaganda in den folgenden Wochen die angeblich tausendjährige Geschichte der Deutschen in Böhmen und Mähren. Und sie kolportiert Gräuelnachrichten: Deutsche würden in Tschechien drangsaliert, verfolgt, gar ermordet.
Als Hácha schließlich an jenem 15. März um kurz vor Mitternacht in Berlin eintrifft, schaut Hitler gerade einen Film. Den Staatsgast aus der Tschechoslowakei lässt er zwei Stunden warten, bis er ihn schließlich um halb zwei Uhr nachts vorlässt. Es sei für alle das Beste, sagt Hitler, wenn das Deutsche Reich in den verbliebenen tschechischen Gebieten die Macht übernehme. Um 6 Uhr würden deutsche Truppen die Grenze überschreiten. Sollten sich tschechische Soldaten wehren, würde das zum Blutvergießen führen. Hácha hört mit versteinertem Blick zu. Als Hermann Göring schließlich droht, die Luftwaffe könne Prag auch bombardieren, erleidet Hácha einen Schwächeanfall. Hitlers Leibarzt spritzt ihn wieder fit. Telefonisch gibt Hácha die Order, die Deutschen widerstandslos eindringen zu lassen. Um kurz vor 4 Uhr nachts unterschreibt er seine eigene Abdankung. Er lege sein Amt "vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches", heißt es in der Urkunde. Hitler soll vor seinen Sekretärinnen gejubelt und gerufen haben, er werde als größter Deutscher in die Geschichte eingehen
"Eine schreckliche Depression"
Während der Staatschef in Berlin gedemütigt wird, schläft die tschechische Hauptstadt. Am Morgen des 15. März ist es eisig in Prag, viel zu kalt für einen Frühlingstag. Gegen 9 Uhr erreichen deutsche Truppen die Stadt. Lisa Mikovà ist damals 17 Jahre alt, sie ist Tschechin, Jüdin und bis dahin zweisprachig aufgewachsen – Tschechisch und Deutsch. "Wir sind damals nicht auf die Straße gegangen. Wir haben den Einmarsch aus dem Fenster beobachtet", erinnert sie sich heute. "Viele Menschen haben geweint, viele haben die Fäuste geballt. Es war damals eine schreckliche Depression."
Unter dem Vorwand, die Deutschen in Tschechien zu schützen, lässt Hitler Truppen einmarschieren. Doch in Wahrheit bedeutet die Annexion das Ende deutscher Kultur in diesem Land. "In der Tschechoslowakei waren die Deutschen nie allzu sehr beliebt", sagt Mikovà im Gespräch mit der DW. "Durch Hitler hat sich der Hass verstärkt, auch dadurch, wie sich die Sudetendeutschen benommen haben. Es war dann nicht mehr ratsam, auf der Straße Deutsch zu sprechen."
Auf die Tschechoslowakei folgt Polen
Im Gefolge der Wehrmacht dringt auch der Sicherheitsdienst (SD) in die tschechischen Gebiete ein. Der Geheimdienst sucht Sozialdemokraten, deutsche Emigranten, Juden. Allein in Prag verhaftet der SD in den ersten Stunden nach dem Einmarsch mehr als 2000 Menschen. "Mit den Nazis kamen auch die Nürnberger Gesetze", sagt Mikovà. "Im Juni 1939 musste ich die Schule verlassen, so wie alle Juden aus dem öffentlichen Leben verschwinden mussten." Lisa Mikovàs Vater, ein Importunternehmer, verliert seine Firma. Drei Jahre später werden Mikovà und ihre Familie deportiert, ihre Eltern in Auschwitz umgebracht.
Tschechien ist nun de facto annektiert. Einen Tag nach dem Einmarsch wird das "Protektorat Böhmen und Mähren" ausgerufen. Von London aus protestiert Premierminister Chamberlain vergeblich – und zieht daraus seine Lehren. Noch im März erhält Polen die Garantie, dass Großbritannien und Frankreich dem Land zu Hilfe kommen, sollte Deutschland angreifen. Eine "zweite Tschechoslowakei" will Chamberlain um jeden Preis verhindern.
"Ohne die Ereignisse im März wäre es Polen wahrscheinlich nicht gelungen, Großbritannien zu einem Beistandspakt zu bewegen", sagt der Historiker Brandes. "Die Annexion der Tschechoslowakei war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Krieg. Denn Hitler hatte nun nicht mehr nur Deutsche 'eingesammelt', sondern auch ein anderes Volk unterworfen." Ein halbes Jahr später, am 1. September 1939, überfällt die deutsche Wehrmacht Polen. Zwei Tage später machen Großbritannien und Frankreich ihre Beistandsgarantie wahr. Der Zweite Weltkrieg beginnt.