Hochspannung an der brasilianischen Grenze
27. August 2018"Wir müssen vor Sonnenuntergang zuhause sein; in der Stadt sind Gruppen von Brasilianern unterwegs und jagen Venezolaner", sagt Gustavo Luces. Er kam vor fünf Monaten von Maturín, einer Stadt an der venezolanischen Karibikküste, nach Brasilien. Wie die meisten der Immigranten, die sich in der kleinen Grenzstadt Pacaraima aufhalten, fühlt er sich von der brasilianischen Bevölkerung bedroht.
Für venezolanische Migranten herrscht in Pacaraima eine inoffizielle Ausgangssperre. Am letzten Samstag war ein brasilianischer Mob mit Stöcken und Steinen auf Venezolaner losgegangen und hat circa 1200 Migranten aus dem Ort vertrieben. Seitdem traut sich kaum noch einer von ihnen nachts auf die Straßen. Auslöser für die Ausschreitungen war ein Überfall auf einen brasilianischen Ladenbesitzer.
Miguel Ángel García hat seinen ganzen Besitz und alle Dokumente verloren, als sein Zelt angezündet wurde. "Die Polizei tut so, als sähe sie die Motorradfahrer nicht, die durch die Straßen patrouillieren. Wir werden wie Dreck, wie Tiere behandelt", erzählt er.
"Autokorsos für den Frieden"
Während die Polizei diese Zustände leugnet, bestätigen Mitglieder der Gruppierung, die die Ausschreitungen organisiert hatte, die Existenz von Zivilpatrouillen.
"Ich würde den Venezolanern raten, sich nachts nicht auf der Straße aufzuhalten; das könnte gefährlich für sie enden", sagt Wendel Lima, einer der selbsternannten Straßenwächter. Der 31-Jährige hatte sich an den Angriffen beteiligt, bestreitet aber, dass Zivilisten Gewalt gegen die Venezolaner ausübten. "Wir tun nur das, was mit der Militärpolizei abgesprochen ist. Wenn wir auf jemanden stoßen, der sich hier niederlassen will, rufen wir die Polizei."
Für den pensionierten Lehrer Fernando Abreu dienen die Autokorsos dazu, den Migranten zu zeigen, dass sie nicht willkommen sind. "Wir werden verhindern, dass sie hier bleiben. Wir verteidigen lediglich unsere Häuser, unsere körperliche Unversehrtheit", sagt er und fordert mehr Härte bei den Einwanderungskontrollen an der Grenze zu Venezuela. "Fast alle hier waren Kriminelle, die ihre Kinder zum Betteln schickten."
Der für die öffentliche Sicherheit zuständige Minister Raul Jungmann wies Vorwürfe zurück, dass die Bundesregierung zu wenig Unterstützung bei der plötzlichen Einwanderungswelle geleistet hätte. Bei einem Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft in der vergangenen Woche sagte er, dass von nun an staatliche Sicherheitskräfte in der Stadt patrouillieren würden.
"Wir wollen verhindern, dass sich Immigranten in großer Zahl in einer Stadt wie Pacaraima ansammeln. Wir werden eine temporäre Unterkunft zwischen der Grenze und Boa Vista [Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima - d. Red.] einrichten", sagte der Minister. Jungmann erklärte auch, die Grenze zwischen Brasilien und Venezuela werde nicht geschlossen, und die Situation in der Region sei unter Kontrolle.
Ein Pfarrer verliert seine Gemeinde
Pfarrer Jesus Bobadilla ist anderer Meinung: "Das Gerede von Ruhe, von Frieden in der Stadt ist irreführend und entspricht nicht der Wahrheit. Niemand weiß, was als nächstes passieren wird. Es liegt Gewalt in der Luft." Der in Marokko geborene Spanier ist der größte Verfechter der Rechte der Immigranten - in der Stadt kommt das nicht gut an. "Ich habe schon die Hälfte meiner Gläubigen verloren", erzählt er.
Bobadilla erzählt, wie vermummte Motorradfahrer mit Schlagstöcken nachts zirkulieren und den Venezolanern nachstellen. "Sie veranstalten auch sogenannte Autokorsos für den Frieden, aber das sind keine Friedensbemühungen, sondern inoffizielle Patrouillen."
Die DW hat einen dieser Autokorsos begleitet. Motorradfahrer und circa 20 Autos, hauptsächlich große Pick-ups, fahren an den Plätzen vorbei, an denen sich die Venezolaner in der Stadt trafen. An den Autos sind Plakate angebracht, die um Frieden bitten und Xenophobie unter der Bevölkerung bestreiten. "Wir ziehen durch die Stadt und bitten um Frieden. Wir können nicht so viele Menschen aufnehmen, und viele von ihnen kamen hierher, um zu klauen", sagt die Lehrerin Neura Costa.
Angesichts der angespannten Lage ist die Anzahl der Venezolaner, die hier Schutz suchen, im Lauf der letzten Woche rapide gesunken. Kamen bis zur letzten Woche durchschnittlich 800 bis 1000 Migranten pro Tag, so sind es inzwischen nur noch halb so viele.
José Garcez, der kürzlich mit seiner Familie über die Grenze kam, will sich in Brasilien niederlassen. "Die Angriffe machen uns Angst. Niemand weiß, was als Nächstes passieren wird, und wir haben kein Geld, um nach Boa Vista weiterzureisen", erzählt er.
Immer noch besser als in Venezuela
Die Familie folgt der Routine der mehreren hundert mittellosen Venezolaner, die an der Grenze ausharren: Tagsüber versuchen sie in Pacaraima, Essen und Dokumente zu beschaffen, nachts kehren sie auf die venezolanische Seite der Grenze zurück und verbringen die Nacht an einer Fernfahrerraststätte.
Ganze Familien, zum Teil mit Kleinkindern und Senioren, drängen sich dort in einem überdachten Bereich aufeinander. Es gibt kein fließendes Wasser. Der Großteil der Familien nutzt Pappkartons als Betten.
Jeden Morgen vertreiben venezolanische Soldaten die Immigranten aus dem Unterschlupf. "Es ist entwürdigend, wir fühlen uns wie Tiere. Aber es ist immer noch besser als die Lage, aus der ich geflohen bin", behauptet Garcez. "Vor vier Monaten ist mein jüngster Sohn gestorben. Es gab keine Medikamente für ihn. Die venezolanische Regierung hat ihn getötet."
Während Sicherheitsminister Jungmann letzte Woche das Auffangzentrum an der Grenze besuchte, bereitete sich Garcez darauf vor, seine Reise fortzusetzen. Er hat das letzte Handy der Familie verkauft und kam so an 120 brasilianische Real, um die Busfahrt für sich, seine Ehefrau, seine Mutter und die fünf Kinder zu bezahlen. "Ich hoffe, dort greifen sie uns nicht an, wie es den Venezolanern hier geschah."