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KatastropheBrasilien

Hochwasser in Brasilien: Persönliche Geschichten im Schlamm

Valentina Gindri
29. Mai 2024

Das Hochwasser im Süden Brasiliens geht zurück und in den Überschwemmungsgebieten suchen Freiwillige und Betroffene nach Erinnerungsstücken, die Geschichten erzählen oder eine besondere Bedeutung für die Menschen haben.

Ein schwer erkennbares Foto, gefunden im Haus einer Familie in der Stadt Sinimbu im Süden Brasiliens
Fotos werden oft nur stark beschädigt gefundenBild: Luciana Kaempf Gastal/DW

"Niemand schaut auf das Sofa oder den Fernseher. Alle beeilen sich, um Fotos oder ein Erinnerungsstück zu finden und zu retten. Aber wirklich alle", sagt Gustavo Oliveira, Gründer einer ehrenamtlichen Gruppe von Helfern in der Stadt Novo Hamburgo, die dabei hilft, die von den Überschwemmungen im Süden Brasiliens betroffenen Häuser aufzuräumen.

Hier haben die Menschen nicht nur materielle Güter, sondern vor allem Räume und Erinnerungsgegenstände verloren, die ihre Identität und den Sinn ihres Lebens ausmachen. "Eine der eindrucksvollsten Szenen, die ich gesehen habe, war die eines Mannes, der seinen Ehering in dem Schlamm fand. Er steckte ihn sofort wieder an seinen Finger", sagt Oliveira, der mit seiner Gruppe bereits bei der Säuberung von mehr als 60 Häusern geholfen hat.

Gustavo Oliveira und andere Freiwillige haben bereits bei der Säuberung von mehr als 60 Häusern geholfenBild: Gustavo Oliveira/DW

Wie andere Städte in der Metropolregion Porto Alegre wurde auch Novo Hamburgo von den Überschwemmungen schwer getroffen. Ganze Stadtteile sind vollständig überflutet worden, viele Menschen verloren alles. Der Pegel des Guaíba-Sees, an dem die Millionenstadt liegt, betrug am Dienstag (28. Mai) 3,73 Meter und damit deutlich mehr als die Hochwassermarke von 3 Metern.

Im gesamten Bundesstaat Rio Grande do Sul, dem südlichsten Brasiliens, sind beinahe 90 Prozent aller Städte vom Hochwasser betroffen. Seit Ende April sind 169 Menschen durch die schweren Regenfälle und Überschwemmungen ums Leben gekommen. Weitere 56 werden vermisst. Mehr als 580.000 Menschen mussten ihre Häuser laut dem Zivilschutz verlassen, 55.000 sind noch immer in Notunterkünften untergebracht.

Selbst in dieser Notlage ist für viele Menschen und Gemeinschaften die Rettung von Erinnerungsstücken eine der größten Sorgen. Und nicht jeder hat so viel Glück wie der Mann, der seinen Ehering gefunden hat.

Innbegriff für Zuhause und Familie

Oliveira berichtet von einem Vater, der stark beschädigte Fotos seiner Familie fand. "Die Fotos waren sehr unscharf. Er zeigte uns Bilder seiner Kinder, aber man konnte ihre Gesichter kaum erkennen. Er sprach aber sehr detailliert über die Bilder, als ob man alles sehen könnte. In seiner Vorstellung konnte man dort noch viel sehen", sagt er.

Viele sind wie gelähmt, wenn sie den Zustand ihrer Häuser sehen. Dieses Gefühl, einen Ort zu betreten, der einst die Familie beherbergte, der aufgeräumt und gemütlich war, und ihn nun völlig zerstört zu sehen, erlebte die Kunsthandwerkerin Luciana Gastal aus Sinimbu, einer kleinen Stadt zweieinhalb Stunden von der Metropole Porto Alegre entfernt. Das Haus ihrer – heute verstorbenen – Großeltern, in dem sie als Kind ihre Ferien verbrachte, wurde überflutet.

Im Haus der Großeltern von Luciana Gastal in Sinimbu, in Rio Grande do Sul, wurden alle Möbel zerstörtBild: Luciana Kaempf Gastal/DW

"Dieses Haus war für mich der Inbegriff für ein Zuhause, für eine Familie. Und jetzt sind die Sachen aus der Küche im Wohnzimmer, die Sachen aus den Schlafzimmern in der Küche. Alles ist durcheinander und im Dunkeln", sagte sie. Sämtliche Möbel landeten auf dem Müll.

Gastal konnte ein paar Fotos, die Uhr ihres Großvaters sowie gehäkelte und bestickte Tücher ihrer Großmutter retten: "Ich konnte eine Seite aus einem trockenen Fotoalbum herausreißen, es war das Hochzeitsfoto meines Onkels. Ich habe es meiner Cousine geschenkt, die in der Flut alles verloren hat. Ein Foto meiner Tochter mit ihrer Großmutter war im Schlafzimmer mit Schlamm verschmutzt. Das hat mich sehr berührt."

Vor jedem Haus ein Berg Müll

Wenn es ums Aufräumen geht, stehen die Betroffenen oft unter Druck, schnell aufzuräumen, während sie von Gefühlen betäubt sind. Gerade dann ist es wichtig, Hilfe von Menschen zu bekommen, die keine sentimentale Bindung zu dem zerstörten Ort haben. "Es ist etwas ganz anderes, wenn man drinnen ist und seinen Schlamm wegräumt, als wenn man draußen ist und den Schlamm anderer Leute beseitigt", sagt Gastal, die in Porto Alegre wohnt.

Sie verbrachte zwei Wochen in Sinimbu und reinigte nicht nur das Haus ihrer Familie, sondern half auch dabei, die Häuser anderer Menschen sauberzumachen und die Erinnerung an die Stadt selbst wiederzubeleben. "Ich begann, durch die Straße zu laufen. Vor jedem Haus lag ein Berg Müll. Ich fing an, Dinge aus diesem Müll herauszusuchen, bevor ein Planierer alles räumen würde."

Fotos und gehäkelte Tücher ihrer Großmutter gehören zu den von Luciana Gastal geretteten ObjektenBild: Luciana Kaempf Gastal/DW

Sinimbu ist eine Stadt mit 10.000 Einwohnern im Tal des Rio-Pardo-Flusses, von deutschen Migranten gegründet und mit einer langen landwirtschaftlichen Tradition. Das Wasser erreichte eine Höhe von drei Metern in der Stadt; alle Gebäude wurden überflutet.

Die ganze Geschichte einer Stadt

Angesichts des Ausmaßes der Schäden befürchtet Gastal, dass die Geschichte der Stadt ausgelöscht werden könnte: "Hier gibt es kein Museum, die gesamte Geschichte der Stadt befand sich in diesen Häusern." Um zumindest einen Teil dieser Geschichte zu retten, haben Gastal und zwei Freundinnen das Projekt "Unsere Wurzeln" in den Sozialen Medien ins Leben gerufen.

Sie sammelten Geschirr, Gläser, Schränke, Betten, Stühle, Heiligenfiguren und religiöse Gegenstände. "Vor der Schule, in der meine Mutter Lehrerin war, standen mehrere alte, hochwertige Stühle und Tische, die wir gerettet haben. Ich habe auch einen sehr schönen Wissenschaftskasten gefunden, der bestimmt 60 Jahre alt war, und auch eine Laborausrüstung. Wir haben sehr wertvolle Dinge gesammelt‚ die wir sortieren und der Schule zurückgeben werden."

Die Gruppe nutzte Soziale Medien, um Schreiner, freiwillige Reinigungskräfte und  Fachleute, die bei der Restaurierung der Gegenstände helfen könnten, zu gewinnen.

Die restaurierten Gegenstände sollen zurückgegeben werden, wenn die Besitzer gefunden werden können. Sonst können Tische, Stühle und Betten auch an bedürftige Menschen gespendet werden. "Wir haben bereits einige Dinge, die wir gefunden haben, an Menschen gespendet, die alles verloren hatten", sagt Gastal.

Auch wenn ein bedeutender Teil der Stadtgeschichte durch das Wasser verloren gegangen ist, können gefundene Gegenstände zu wichtigen Elementen der Rekonstruktion und Bewahrung der Erinnerung werden. "Ich sehe in diesen Dingen eine Menge Liebe. Ein bunter Kessel, den wir aus dem Müll geholt haben, kann in kurzer Zeit zu einer Blumenvase werden und einem Haus Leben einhauchen", sagt die Kunsthandwerkerin.

Der Text wurde aus dem Portugiesischen adaptiert. 

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