Hoffen auf den Zug nach Deutschland
3. September 2015Der Druck ist aus dem Kessel, vorerst zumindest. Die angespannte Stimmung vom Mittwochabend weicht einem sehr vorsichtigen Optimismus, nachdem die Polizei Donnerstagfrüh den Zugang zum seit Dienstag gesperrten Keleti-Bahnhof frei gibt. Anfangs können die meisten Flüchtlinge allerdings nichts damit anfangen, was auf der Anzeigetafel steht: Namen wie Sopron sind ihnen völlig unbekannt. Sie suchen nach München und Wien. Die stehen zwar auch noch dort, in weißen Buchstaben auf blauem Grund, aber sie bedeuten nichts mehr. Denn darunter prangt: "Alle internationalen Verbindungen sind abgesagt."
Der Zug auf Gleis acht ist trotzdem brechend voll, die Menschen schieben sich in die Eingänge, um auch noch die letzten Lücken zu füllen. Viele glauben, dass der Zug sie doch in ihr gelobtes Land bringt, denn auf der Lokomotive stehen ein paar Sätze auf Deutsch. Tatsächlich aber fährt der Zug an die westliche Grenze Ungarns, in die Stadt Sopron. Von dort sind es nur wenige Kilometer bis Österreich. Es ist zumindest die richtige Richtung, trotzdem springen viele in letzter Sekunde wieder ab. Sie trauen dem Braten nicht, wollen einen Zug, der direkt nach Deutschland fährt, raus aus dem von den meisten inzwischen verhassten Ungarn.
Sharifi sitzt mit seiner Familie auf dem Boden des Bahnsteigs. Im rechten Arm hält er seine einjährige Tochter, mit der linken Hand isst der Afghane Huhn und Pommes frites. Seine erste richtige Mahlzeit seit zwei Tagen, erzählt er: "Unter den Taliban war die Lage noch einigermaßen stabil Afghanistan, aber jetzt mit Daesh, dem 'Islamischen Staat'" - er schüttelt den Kopf - "haben wir es einfach nicht mehr ausgehalten." Auch er träumt von Deutschland, das sich viele nach der erbärmlichen Behandlung durch die Behörden hier in Budapest noch paradiesischer ausmalen als vorher.
Familien bleiben misstrauisch
"Unter uns gibt es viele großartige Menschen", sagt er zwischen zwei Bissen, "Ärzte, Mechaniker, alle möglichen Berufe - bitte Deutschland, nimm uns auf!" Warum er denn nicht auf den Zug Richtung Sopron gesprungen sei, um seinem Ziel ein Stück näherzukommen, fragen wir. Er winkt ab: "Wir haben gehört, dass die Behörden den Zug direkt zu einem Camp außerhalb Budapests umleiten wollen." Eine ungarische Kollegin schüttelt den Kopf: "Unmöglich", sagt sie, "die ungarische Regierung ist schlimm, aber davor würde selbst sie zurückschrecken."
Vor allem die Familien mit Kindern agieren viel vorsichtiger, als die jungen Einzelgänger. Sie wollen erst mehr Informationen, vielleicht einen Rückruf von einem, der es dann tatsächlich über die Grenze bei Sopron geschafft hat. Die Schlepper, die sich in den vergangenen Tagen schon blitzschnell auf die neue Situation eingestellt hatten und mit Taxis und Bussen Flüchtlinge aus Budapest wegbrachten, werden auch in Sopron Schlupflöcher finden, um ihre Geschäfte zu machen - sollten die Züge aus dem Keleti-Bahnhof denn tatsächlich an der Grenze ankommen.
Schlingerkurs der Regierung
Viele vermuten einen Masterplan hinter dem Hin und Her der ungarischen Regierung. Die kündigt an, mehr Transitlager an der serbischen Grenze bauen zu wollen. Gleichzeitig verspricht sie ein Flüchtlingscamp neben dem Bahnhof in Budapest. Tausend Flüchtlinge sollen dort in Zelten Platz finden. Aber schon jetzt sind es wohl über 3000, die in den Passagen unter dem Bahnhof ihr Lager aufgeschlagen haben, nach wie vor unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Flüchtlinge glauben ohnehin nicht an das, was ihnen Polizei oder andere ungarische Quellen erzählen.
Gegen Mittag wird klar: Was wir anfangs für Verschwörungstheorien gehalten haben, stimmt. Ein Reuters-Reporter hat es ebenfalls auf den Zug Richtung Sopron geschafft. Er bestätigt, was uns Sharifi schon zwei Stunden vorher erzählt hat. Die Polizei hält die Züge außerhalb der Hauptstadt an und evakuiert die Flüchtlinge. Sie sollen in ein Aufnahmelager in Bicske. Sie leisten Widerstand, einige fliehen. Die Bilder, die uns von dort erreichen, sind herzzerreißend. Sharifi ist nicht überrascht: "Seht ihr, ich wusste das."
Dann packt er schnell seine Tochter und läuft raus aus dem Bahnhof. "Hier ist es jetzt zu gefährlich", sagt er und schaut über seine Schulter zurück zu den Polizisten mit den roten Mützen auf dem Kopf. Der Rest der Familie sitzt bereits neben dem Zelt mit Camouflage-Muster vor dem Bahnhof. Jetzt heißt es wieder warten. Auf den Zug aus Deutschland, von dem alle immer wieder reden. Die Kanzlerin persönlich wird ihn schicken, glauben manche - um sie zu holen.