Hoffnung für Huntington-Kranke durch neue Gentherapie
25. September 2025
Mit einem Schlag könnte sich das Verständnis von einer der gefürchtetsten Erbkrankheiten der Neurologie verändern: Die Huntington-Krankheit, bisher Synonym für unaufhaltsamen körperlichen und geistigen Verfall, könnte vor einem historischen Wendepunkt stehen - wenn sich die vorläufigen Studiendaten bestätigen.
"Bei aller Vorsicht, aber es könnte sein, dass wir seit gestern in einer neuen Welt für die Huntington-Erkrankung leben," sagt der deutsche Huntington-Experte Professor Carsten Saft im DW-Interview.
Saft nimmt dabei Bezug auf eine Huntington-Studie aus London. Ein Team um Professorin Sarah Tabrizi und Professor Ed Wild am University College London hat in einer Phase-I/II-Studie 29 Erkrankte drei Jahre lang beobachtet. Bei 12 ausgewerteten Patienten und Patientinnen hat die Gentherapie AMT-130 das Fortschreiten der Erkrankung durchschnittlich um 75 Prozent verlangsamt.
Der deutsche Huntington-Experte, der nicht an der Studie beteiligt war, spricht von "sehr positiven Ergebnissen", die die aktuellen Daten zur Gentherapie AMT-130 zeigen. "Diese Resultate machen Betroffenen und ihren Familien Hoffnung, weil es tatsächlich das erste Mal gelungen zu sein scheint nachzuweisen, dass dieser Ansatz die Krankheit verlangsamen kann", so Saft, Oberarzt vom Huntington-Zentrum Nordrhein-Westfalen. "Es gibt Schwächen der Studie und viele Daten liegen uns noch nicht vor. So war es eine kleine Gruppe von nur 12 Patienten, die ausgewertet wurde und es gab keine Plazebogruppe in der Studie," sagt Saft, so dass "zumindest ein Teil der Ergebnisse durch einen Plazeboeffekt mitbedingt sein könnte. Dennoch scheint es in die richtige Richtung zu gehen."
"Gentherapie" gegen Huntington?
Bei der Huntington-Krankheit ist ein Fehler in einem winzigen Abschnitt im Erbgut entscheidend. Bei der Gentherapie wird eine genetische Bauanleitung (die sogenannte "DNA-Kassette") während einer Operation direkt ins Gehirn gespritzt. Diese Kassette enthält spezielle kleine Moleküle (meist microRNA oder IRNA), um das Protein zu reduzieren, das Huntington-Patienten krank macht. Ziel ist, die Ursache der Erkrankung direkt im Gehirn zu beeinflussen - und nicht nur ihre Symptome zu behandeln.
Der Begriff "Gentherapie" ist dabei eigentlich etwas irreführend, denn es wird nicht etwa das krankhafte Gen verändert, sondern die Produktion des mutierten Proteins abgesenkt. Als besonders gutes Zeichen wertet Experte Carsten Saft die Reduktion bestimmter Biomarker wie Neurofilament Light. Dies spreche für einen echten Erfolg.
Wie Saft knüpfen Huntington-Experten aus aller Welt große Erwartungen an diesen Therapieansatz, auch wenn die untersuchte Patientengruppe sehr klein war, die Erkenntnisse vorläufig sind und noch nicht unabhängig geprüft wurden.
Zahlreiche offene Fragen
In Zukunft werde sich zeigen, was eine solche Therapie später einmal kosten werde und vor allem wie langfristig sich die Behandlung auswirkt. Saft ist diesbezüglich vorsichtig optimistisch. "Das ist natürlich Spekulation, aber vom Ansatz her soll diese DNA-Kassette, die dort einmalig ins Gehirn eingebracht wird, ein Leben lang IRNA produzieren und so das schädliche Huntington-Eiweiß reduzieren", sagt der Professor. "Ob sie das tatsächlich tut, weiß im Moment niemand, weil das noch niemand so lange beobachtet hat. Auch der jetzige Ansatz stellt keine Heilung da, auch hier ist von einer weiteren, aber dann hoffentlich langsameren, Verschlechterung auszugehen."
Zudem sei die Injektion direkt ins Gehirn ein hochkomplexer und auch nicht ungefährlicher neurochirurgischer Eingriff, so der Bochumer Oberarzt. Schwierig sei auch die sich anschließende Immuntherapie, die verhindern soll, dass die injizierten Moleküle vom Immunsystem als Fremdkörper bekämpft werden.
Bisherige Realität für Huntington-Patienten: Kontinuierliche Verschlechterung
Die Huntington-Krankheit bedeutet für Betroffene und ihre Familien jahrzehntelang eine scheinbar festgelegte Zukunft: Mit dem fehlerhaften Gen beginnt ein schleichender Abbau von Körper und Geist, der nicht nur die Bewegungsfähigkeit, sondern auch die Persönlichkeit massiv verändert. Die Symptome reichen vom Kontrollverlust über die Muskeln, Komplikationen wie Lungenentzündungen bis zu tiefgreifenden psychischen Veränderungen.
Bislang können nur die Symptome mit Neuroleptika-ähnlichen Medikamenten gegen die unkontrollierten Bewegungsstörungen (die "Chorea") und mit Antidepressiva gegen die starken Stimmungsschwankungen behandelt werden, was oft gut hilft, aber den Verlauf nicht beeinflusst, erläutert Experte Saft.
Meist zeigen sich die ersten Anzeichen der Huntington-Krankheit langsam in einem Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Manchmal beginnt die Schädigung im Gehirn aber schon in der Kindheit. In seltenen Fällen entsteht die Krankheit sogar spontan, auch wenn niemand in der Familie betroffen ist - für Betroffene ein völlig unerwarteter Schicksalsschlag.
Huntington Krankheit: Ein Gendefekt mit dramatischen Folgen
Verantwortlich für die Huntington-Krankheit ist eine scheinbar kleine genetische Wiederholung in der Buchstabenfolge "CAG" im sogenannten Huntingtin-Gen (HTT) auf Chromosom 4. Ab etwa 36 Wiederholungen wird das Gehirn krank. Gentests erlauben heute eine frühzeitige Diagnostik.
Huntington ist die häufigste genetische Hirnstörung bei Erwachsenen. Weltweit leiden etwa fünf bis 10 von 100.000 Menschen an Huntington, manche Regionen etwa in Venezuela zeigen eine bis zu 100-mal höhere Prävalenz.
Aufbruch in eine neue Epoche der Huntington-Therapie
Die Möglichkeit, erstmals nicht nur die Symptome, sondern tatsächlich die Ursachen zu bekämpfen, wäre ein Wendepunkt, wenn sich die Forschungsergebnisse erhärten. AMT-130 könnte das unausweichliche Schicksal vieler Familien tatsächlich verändern.
Die US Food and Drug Administration (FDA) soll nun als nächsten Schritt über die Zulassung der Therapie entscheiden. Die FDA ist unter anderem für die Zulassung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln in den USA verantwortlich, für Europa wäre das die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA).
Zudem gebe es ähnliche, ebenfalls vielversprechende Therapieansätze, so der Bochumer Huntington-Experte. Auch wenn die derzeit untersuchten Therapieansätze wahrscheinlich nicht zu einer Heilung für die Huntington-Krankheit führen werden, so Carsten Saft, wäre es fantastisch, den Krankheitsverlauf beeinflussen zu können.