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Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch wird 100

16. Juli 2025

Sie hat Auschwitz überlebt und viele Jahre dafür gekämpft, dass der Holocaust nicht vergessen wird. Doch an ihrem 100. Geburtstag ist Anita Lasker-Wallfisch desillusioniert: Antisemitismus ist überall auf dem Vormarsch.

 Anita Lasker-Wallfisch sitzt in einem Sessel
Am 17. Juli wird es ein Konzert zu Ehren von Anita Lasker-Wallfisch geben.Bild: Warner Bros/picture alliance

Ein ganzes Jahrhundert ist Anita Lasker-Wallfisch schon auf dieser Welt. Vor dem Tod hat sie keine Angst. Zu oft musste sie ihm ins Auge blicken, denn als Jüdin wurde sie von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Es war das größte aller Konzentrations- und Vernichtungslager: Im Akkord wurden hier Menschen umgebracht, insgesamt etwa 1,1 Millionen. Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt - weil sie Cello spielen konnte.

In Auschwitz rechnete Anita Lasker-Wallfisch täglich damit, ermordet zu werdenBild: DW/M. Heuer

Jahrzehntelang hat sie als engagierte Zeitzeugin ihre Stimme gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus erhoben. Vor Schulklassen berichtete sie schonungslos davon, wie die Nazis Juden systematisch ausgrenzten und schließlich ermordeten. Sie sieht es als Pflicht an, "dass die, die überlebt haben, die Stimmen der verstummten Millionen sein müssen". Deshalb hat sie sich auch an an dem Projekt "Dimensions in Testimony" beteiligt, in dem interaktive Hologramme von Holocaust-Überlebenden über deren Tod hinaus Fragen beantworten.

Es gab eine Zeit, da war sie optimistisch, dass ihr Engagement etwas bewirkt: "Ich habe mit Tausenden von Schülern gesprochen. Wenn nur zehn sich ordentlich verhalten, werde ich zufrieden sein." 

Aufnahmen für das Zeitzeugen-Programm Bild: obs/Stiftung EVT/USC Shoa Foundation/Z. Lightfoot

Noch nie vom Holocaust gehört? 

Doch mittlerweile macht sich bei Anita Lasker-Wallfisch Hoffnungslosigkeit breit. "Sie ist verzweifelt", sagte ihre Tochter Maya der Jüdischen Allgemeinen Zeitung. Wachsender Antisemitismus, der zunehmende Rechtsruck und die Lage im Nahen Osten: ihre Mutter habe den Eindruck, all ihr Engagement habe nicht viel bewirkt.

Eine Stimme gegen Antisemitismus

02:49

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Schaut man sich in der Welt um, kann man sie verstehen. Nicht nur, dass laut einer aktuellen Umfrage der Jewish Claims Conference zwölf Prozent der 18- bis 29-jährigen Deutschen noch nie etwas vom Holocaust gehört haben. Nein, seit Israel massiv militärisch im Gazastreifen operiert, eskaliert der Antisemitismus weltweit.

"Ist es wichtig, ob man Jude ist? Man ist einfach ein Mensch", sagte sie kürzlich der Süddeutschen Zeitung.

"Ich wusste nicht, dass ich jüdisch bin"

Anita Lasker wurde am 17. Juli 1925 als jüngste von drei Schwestern in Breslau in eine gutbürgerliche deutsch-jüdische Familie geboren. Der Vater war Anwalt, die Mutter Violinistin. Die Eltern legten Wert auf eine gute Erziehung, Musik gehörte dazu. Religion spielte bei den Laskers keine Rolle. 

"Ich wusste nicht, dass ich jüdisch bin, bis man mich angespuckt und dreckiger Jude genannt hat", sagt sie Jahrzehnte später. "Wir waren die typischen, total assimilierten deutschen Menschen". 1933 war das, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis. Über das, was das Nazi-Regime mit den Juden vorhatte, machten sich die Eltern keine Illusionen: Ende 1939 brachten sie Anitas älteste Schwester Marianne nach England in Sicherheit. Sich selbst konnten sie nicht retten. 1942 wurden sie deportiert, Anita sah Mutter und Vater nie wieder.

Anita Lasker-Wallfisch (r.) und ihre Schwester Renate Lasker-Harpprecht († 2021) erhielten 2016 den Preis des Jüdischen Museums Berlin für Verständigung und Toleranz Bild: picture-alliance/Eventpress HHH

Sie und ihre Schwester Renate mussten in einer Papierfabrik Zwangsarbeit leisten. Dort fälschten sie Papiere für französische Zwangsarbeiter und ermöglichten ihnen so die Rückreise in die Heimat. Als die beiden Schwestern 1943 selbst mit gefälschten Pässen fliehen wollten, steckte man sie ins Gefängnis. Fünf Monate später kamen sie getrennt voneinander nach Auschwitz.

Die "Cellistin von Auschwitz" 

Anita Lasker konnte ein Instrument spielen und wurde dem Mädchenorchester von Auschwitz zugeteilt. "Das Cello rettete mein Leben", sagte sie später. Wenn die Zwangsarbeiter das Lager morgens im Gleichschritt verließen und abends wieder zurückkehrten, lieferte das Orchester die Marschmusik dazu. Sonntags spielten die Mädchen für die SS.

Klassik unterm Hakenkreuz

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"Niemand von uns hätte je geglaubt, dass wir Auschwitz nicht durch den Schornstein verlassen würden", so ihre Worte. Im November 1944, als sich sowjetische Truppen Auschwitz näherten, mussten Anita und ihre Schwester ins extrem überfüllte Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo die Menschen an Hunger, Durst und Krankheiten starben. "Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete", schrieb sie später in ihren Erinnerungen. "In Belsen krepierte man einfach." 

"Wir sind voller Hoffnung, voll neuen Mutes"

Am 15. April 1945 befreiten britische Soldaten das Lager Bergen-Belsen. Einen Tag darauf strahlte das deutsche Programm der BBC einen der ersten Augenzeugenberichte aus deutschen Konzentrationslagern aus. Anita Lasker trat vors Mikrofon: "Die Auschwitzer Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist." Ausführlich beschrieb sie das Grauen und ergänzte dann: "Endlich am 15. kam die Befreiung (des Lagers Bergen-Belsen, wo sie zuletzt war, Anm. d Red.). Die Befreiung, auf die wir drei Jahre lang gehofft haben. Noch glauben wir zu träumen. Wir sehen die Engländer durch das Lager fahren: Menschen, die uns nichts Böses wollen. … Aber wir blicken jetzt vorwärts, wir sind voller Hoffnung, voll neuen Mutes. Wir sind befreit." 

Unter der Aufsicht der englischen Befreier verladen Wachmannschaften unbeerdigte Opfer auf LastwagenBild: dpa/picture alliance

Langes Schweigen über die Vergangenheit

Als Zeugin sagte sie im September 1945 im Gerichtsprozess gegen die Wachmannschaften von Bergen-Belsen vor einem britischen Militärgericht aus. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass sie über die Gräuel sprach, die sie erlebt hatte.

1946 wanderte sie nach Großbritannien aus. In London war sie Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra und spielte in diesem Ensemble bis zur Jahrtausendwende. Lasker heiratete den Pianisten Peter Wallfisch, der wie sie aus Breslau stammte und mit einem Kindertransport nach Palästina emigriert war. Mit ihren beiden Kindern redeten das Paar nicht über die Vergangenheit. Fragte die Tochter die Mutter, warum auf ihrem Arm eine Telefonnummer eintätowiert sei, hieß es: "Das erzähle ich dir, wenn du älter bist."

Es dauerte viele Jahrzehnte, bis Anita Lasker-Wallfisch sich entschloss, ihre Geschichte aufzuschreiben. 1996 erschien ihr Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz". Es machte sie auch international als Zeitzeugin bekannt. 

Holocaust-Gedenken im Bundestag

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2018 hielt Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" eine flammende Rede gegen das Vergessen. Sie nehme wahr, dass es ein zunehmendes gesellschaftliches Bedürfnis gebe, einen Schlussstrich zu ziehen, aber "was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mit einem Strich ausgelöscht werden".

Jetzt wird sie 100. In London wird es ihr zu Ehren ein Konzert geben. Würdenträger aus aller Welt werden einer der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen des Holocaust gratulieren. Und natürlich werden ihre Tochter Maya und ihr Sohn Raphael sowie Enkel und Urenkel auf sie anstoßen. Der Jubilarin selbst ist eine große Feier nicht wichtig. Anita Lasker-Wallfisch wünscht sich wohl vor allem, dass das Gift des Hasses und des Antisemitismus endlich ausgemerzt wird. Ein Wunsch, der nicht so leicht zu erfüllen ist.

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