Holocaust-Überlebende Margot Friedländer ist tot
9. Mai 2025
Margot Friedländer sagte zu ihrem 100. Geburtstag, sie habe vier verschiedene Leben gelebt. Aber der eine Moment zwischen dem ersten und dem zweiten Leben habe sie für immer geprägt. Es war der Moment, in dem sich ihre frühen, überwiegend glücklichen Jahre in ihrer deutsch-jüdischen Familie in Berlin durch den nationalsozialistischen Terror verwandelten.
15 Monate lebte sie auf der Flucht vor den Nazi-Behörden, versteckt im Untergrund. Nachdem sie gefasst wurde, kämpfte sie ein weiteres Jahr ums Überleben im Konzentrationslager Theresienstadt, bis dieses und andere Lager 1945 befreit wurden. Ihr drittes Leben führte sie in die USA und und ihr viertes schließlich zurück nach Berlin.
Der prägende Moment, die Szene, von der sie in ihren Memoiren berichtet, war am 20. Januar 1943 in Berlin-Kreuzberg, in der Wohnung eines ihr kaum bekannten Paares. Sie wusste, dass ihre Mutter kurz vor ihr dort gewesen war.
Eine Bernsteinkette und eine Botschaft
Die Bekannte erzählte der 21-Jährigen, die damals Margot Bendheim hieß, dass ihre Mutter weggegangen sei. Sie habe sich selbst bei der Polizei gemeldet, um zu ihrem Sohn, zu Margots Bruder Ralph, zu gehen. Der 17-Jährige war am Nachmittag von der Gestapo verhaftet worden. Die Bekannte übergab Margot die Handtasche ihrer Mutter, ihre letzte Verbindung zu ihrer Familie: darin ein Adressbuch und eine Bernsteinkette. Dazu überbrachte die Bekannte Margot eine Botschaft, die ihre Mutter nur mündlich hinterlassen hatte: "Versuche, dein Leben zu machen."
"Diese Worte haben mein Leben geprägt", sagte Margot Friedländer der DW in Berlin bei einer der Veranstaltungen anlässlich ihres 100. Geburtstags am 5. November 2021, der Eröffnung einer Ausstellung mit Porträts von ihr. "Ich fühle, dass ich was geschafft habe, nicht nur für meine Mutter, nicht nur für sechs Millionen Juden, sondern die vielen Millionen Menschen, die umgebracht wurden, weil sie nicht das tun wollten, was man ihnen vorschreiben wollte."
"Versuche, dein Leben zu machen"
Sie selbst erfuhr es viele Jahre später, als sie längst in New York lebte: Margot Friedländers Mutter und ihr Bruder Ralph waren wenige Wochen nach ihrer Verhaftung in Auschwitz ermordet worden. Ihr Vater, der einige Jahre zuvor nach Belgien geflohen war, war schon vorher getötet worden. Mehr als sechs Jahrzehnte später wurde die letzte Botschaft ihrer Mutter zum Titel von Friedländers Memoiren, einem Buch, mit dem ihre Erinnerungs- und Bildungsarbeit begann, die das letzte Jahrzehnt in Berlin geprägt hat. 2010 ist sie aus den USA zurück in ihre Geburtsstadt gezogen.
Dieser Schritt fiel ihr nicht leicht, und es gab viele Menschen, die versuchten, sie davon abzubringen. Andere Holocaust-Überlebende, die sie in New York kannte, konnten sich nicht vorstellen, Deutschland, das Land der Täter, auch nur zu besuchen. Ihr Ehemann Adolf Friedländer, ebenfalls Holocaust-Überlebender, den sie in Theresienstadt kennengelernt hatte, hatte gelegentliche Einladungen der Berliner Regierung immer vehement abgelehnt. Er starb 1997.
"Ich frage mich oft, ob es richtig war, hierher zurückzukommen", sagt Friedländer 2010 in dem von der DW koproduzierten Dokumentarfilm "A Long Way Home" ("Ein langer Weg nach Hause").
Sie räumte ein, dass sie sich in der Nähe einiger älterer Berliner unwohl fühle: "Bei Menschen in meiner Generation, da bin ich immer noch vorsichtig. Denn das waren doch die, die damals gejubelt haben. Und nichts unternommen haben, um dem Geschehen Einhalt zu gebieten. Alle wussten davon und haben weggeschaut. Obwohl ich zurückgekommen bin, berührt mich das immer noch sehr stark."
Für die nächste Generation
Ihre Zweifel, ob es richtig war zurückzukommen, wurden durch die Erinnerungsarbeit beantwortet, die sie seit Jahren leistet. Ihre Memoiren erschienen 2008. In ganz Deutschland hat sie aus ihnen vorgelesen, besonders in Schulen.
"Sie hören unglaublich zu", sagte sie über die Schülerinnen und Schüler. "Ich habe - ich weiß es nicht - vielleicht tausend Briefe bekommen. Ich sage immer: 'Es ist für euch. Was war, können wir nicht mehr ändern.' Das ist meine Mission geworden."
Friedländers Weg zeichnen drei Dokumentarfilme des in New York lebenden deutschen Filmemachers Thomas Halaczinsky nach. Der erste davon, "Don't call it Heimweh" ("Nenne es nicht Heimweh"), entstand 2003 bei ihrem ersten Besuch in Berlin, viele Jahrzehnte, nachdem die Nazis sie von hier aus ins Konzentrationslager verschleppt hatten.
Halaczinsky sagte, er habe sich für die Krise interessiert, in der Friedländer steckte, als er sie Anfang der 2000er Jahre kennenlernte. "Ich sah, wie die Auswirkungen der deutschen Geschichte, des Faschismus, der Unterdrückung und des Holocausts, im Leben von Menschen wie Margot fortbestehen, die um ihr Leben und ihre eigene Identität ringen", sagte er der DW.
Die einen Deutschen schützten, die anderen mordeten
Friedländers Situation enthielt einen besonderen Konflikt: Sie hatte sich 15 Monate lang in Berlin versteckt und wurde von nicht-jüdischen Deutschen beschützt, während andere Deutsche ihre Familie ermordeten. "Sie hatte genau damit zu kämpfen und versuchte, einen Weg zu finden, wie sie das unter einen Hut bringen konnte", sagte der Filmemacher: "Wie findet jemand in diesem Alter eigentlich seine Mitte?"
Im zweiten von Halaczinskys Filmen, "A Long Way Home" ("Ein langer Weg nach Hause"), stellte und beantwortete Friedländer die Frage selbst: "Wie kann ich Heimweh nach Deutschland haben, nachdem die Deutschen meine Eltern umgebracht haben?" Sie sagte: "Darauf musste ich antworten. Genau deshalb bin ich hierher gekommen - ich bin hierhergekommen, um die jungen Menschen zu treffen, die damit nichts zu tun hatten."
"Unbezahlbarer Dienst" für Deutschland
Diese Fragen und Kämpfe liegen Jahre zurück. Margot Friedländer wurde mit staatlichen Auszeichnungen und Ehrenbürgerschaften überhäuft. Porträts wurden gemalt, Büsten gegossen, ihre Geschichte in Ausstellungen, Filmen, Büchern und einer Graphic Novel erzählt. Die Schwarzkopf-Stiftung, die junge Menschen dazu ermutigen soll, sich politisch zu engagieren, hatte 2014 ihr zu Ehren einen jährlichen Preis gestiftet, der oft von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht wurde.
Berlins ehemalige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey bezeichnete Margot Friedländer einmal als Vorbild. "Sie geht auf Kinder, auf Jugendliche, auf Menschen aller Altersgruppen zu und teilt ihr Leben", sagte die SPD-Politikerin aus Anlass des 100. Geburtstages der DW: "Und dieses Erinnern ist sehr, sehr wichtig für unsere heutige politische Bildungsarbeit. Und diese Stimme zu hören, auch in ihrem 100. Lebensjahr, das ist ganz wichtig für die junge Generation, aber eigentlich auch für alle, die für eine freie und offene Gesellschaft eintreten."
Sie habe die Hand zur Versöhnung gereicht, betonte damals der Vorsitzende der Schwarzkopf-Stiftung, André Schmitz: "Sie macht es uns Deutschen leicht: Sie ist charmant, sie ist fröhlich, sie genießt die Aufmerksamkeit. Sie macht uns keine Vorwürfe, sondern sagt: Passt auf, sowas war mal möglich - sowas ist immer wieder möglich. Das ist ein unbezahlbarer Dienst."
Aufruf zum Handeln
Der letzte von Halaczinskys Filmen, der die Jahre ihrer Erinnerungsarbeit behandelt, trägt den Titel "Angekommen" und zeigt in der allerletzten Szene Friedländer in einer nachdenklichen, ungewöhnlich unsicheren Stimmung.
"Ich mache mir keine Vorstellung, dass sehr viel nach meinem Ableben bleibt", sagt sie. "Es gibt große Menschen, die etwas getan haben. Aber mein Tun ist doch nur sehr, sehr gering. Vielleicht wird die Generation jetzt, die mich hört in den Schulen, ihren Kindern etwas sagen. Wie weit das gehen wird, da habe ich keine Vorstellung, weil so viele immer wieder sagen: Wir wollen darüber nicht mehr sprechen."
Halaczinsky sieht darin einen Aufruf zum Handeln, wenn wir keine Holocaust-Überlebende mehr haben, die uns Berichte aus erster Hand über die wahren Schrecken des Faschismus liefern können. Auch wenn Margot Friedländers Arbeit stets gewürdigt wurde, sei dies keine Arbeit, die abgeschlossen werden könne. "Es ist ein Prozess, es geht weiter", sagt Halaczinsky: "Ihre Zweifel sind eine Warnung für uns alle."
Nun ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren gestorben, wie ihre Stiftung in Berlin bekannt gab.
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und am 09.05.2025 aktualisiert.