Zilli Schmidt war eine der letzten Überlebenden des NS-Völkermords an Sinti und Roma. Sie berichtete, "was mit den Sinti passiert ist" und warnte vor neuen Nazis.
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"Ich war in drei Lagern. Eins davon war Auschwitz-Birkenau. Das Lager, das eigentlich nur zum Töten da war." Zilli Schmidt war schon über 90 Jahre alt, bevor sie begann, öffentlich über ihr Leben und ihre Verfolgungsgeschichte zu sprechen. Sie gab Interviews für ein Buch: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza". Sie versprach ihren Lesern und Leserinnen: "Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte, bis ich meine Augen zu mache und bin bei meinem Herrn."
Dieses Versprechen hat die Überlebende des Holocaust gehalten. 2021 wurde ihr als "unerschütterliche Kämpferin gegen Hass, Ausgrenzung und Rechtsextremismus" vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Der Oberbürgermeister von Mannheim steckte es ihr stellvertretend im Januar 2022 an. "Zilli gibt nicht auf", kommentierte sie freundlich, als er länger dafür brauchte. Dann wandte sie sich ans Publikum: "Also ihr Hübschen alle, ich danke Euch dafür, dass ihr mir die große Ehre gegeben habt."
Sie hat nie aufgegeben in ihrem Leben. Die kleine, zierliche Frau hatte einen starken Glauben und war überzeugt davon, dass sie so oft ganz knapp den Nazi-Terror überlebt hatte, um über den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma zu berichten. Und sie berichtete: von den glücklichen Kindertagen nach ihrer Geburt 1924 als Cäcilie Reichmann in Thüringen, von den Reisen mit ihrer Familie, von Beschimpfungen in der Schule.
Im Krieg diente ihr Bruder in der Wehrmacht. Doch das schützte die Familie nicht vor der nationalsozialistischen Verfolgung. In Straßburg wurde Zilli Reichmann zusammen mit ihren Cousinen festgenommen. "Straftat: Zigeunerin", notierte die Polizei. Aus dem ersten Konzentrationslager Lety in Böhmen konnte sie noch fliehen.
Sie riskierte ihr Leben
Doch im März 1943 kam die junge Zilli als erste der Reichmanns ins sogenannte "Zigeunerfamilienlager" in Auschwitz-Birkenau. Um den Kindern und anderen zu helfen, habe sie "geklaut wie ein Rabe", Kartoffeln in der Küche, Stiefel im Magazin, sie riskierte ihr Leben. Auch ihre Familie landete in Auschwitz, darunter ihre kleine Tochter Gretel. Sie erlebten Hunger und unvorstellbare Gewalt, Schüsse auf kleine Kinder, Massenmord.
Sie selbst wurde als einzige ihrer Familie am 2. August 1944 aus Auschwitz zwangsweise ins KZ Ravensbrück deportiert. Dort erfuhr sie, dass man alle Verbliebenen im sogenannten "Zigeunerlager" in den Gaskammern ermordet hatte: ihre Eltern, ihre Schwester Guki mit sechs Kindern, ihre eigene vierjährige Tochter Gretel. Allein in dieser Nacht ermordete die SS etwa 4300 schreiende und weinende Menschen - ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma in Europa, dem Porajmos.
"Die Jugend ist nicht aufgeklärt worden"
Am 2. August 2018, genau 74 Jahre später, sprach sie zum ersten Mal öffentlich über ihr Leben - bei der Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und Roma Europas am Mahnmal in Berlin. Viele junge Menschen waren da, das freute sie besonders: "Die Jugend ist ja nicht aufgeklärt worden, die haben das in den Schulen nicht gebracht."
Zwei Jahre später, als es hieß, das Mahnmal solle vorübergehend für den S-Bahn-Bau weichen, sagte sie: "Unser Denkmal darf nicht angefasst werden. Wer das tut, der tötet unsere Menschen ein zweites Mal."
Am 10. Jahrestag der Eröffnung des Denkmals am 24. Oktober eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort eine Freiluftausstellung, in der die Geschichte Zilli Schmidts nachzulesen ist. Er wiederholte seine Bitte um Vergebung "für das unermessliche Unrecht, das den Roma Europas in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen angetan wurde, und für die Missachtung, die deutsche Sinti und Roma nach Kriegsende auch in der Bundesrepublik erfuhren".
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Viele Jahre Papierkrieg gegen deutsche Behörden
Es war nicht leicht für die Überlebende, ihre Geschichte zu erzählen, sie quälten Depressionen und Alpträume. Im Gespräch mit der Deutschen Welle erklärte sie 2020 mit fester Stimme "meine Aufgabe": Sagen, was die Nazis mit den Sinti gemacht haben. "Die sind alle vergast worden, meine ganze Familie, meine ganzen Menschen." Nach dem Krieg habe das kaum jemand gewusst.Zilli Schmidt hatte ein hartes Leben nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945. Sie kämpfte viele Jahre gegen die deutschen Behörden für eine "Entschädigung", einen finanziellen Ausgleich für das erlittene Unrecht und Leid.
Die Auschwitz-Überlebende Zilli Schmidt berichtet aus ihrem Leben - MP3-Stereo
Nach vielen Jahren Papierkrieg erhielt sie wenig Geld. Sie sagte in Gerichtsverfahren gegen die Täter aus. Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik Deutschland die rassistische Verfolgung der größten europäischen Minderheit an.
Romeo Franz nahm sie ein Versprechen ab
Zilli Schmidt hat fast ein Jahrhundert Erfahrungen gemacht mit Ausgrenzung und Verfolgung als deutsche Sinteza. "Liebe Kinder, Ihr müsst sehr stark sein", sagte sie 2020 beschwörend: "Wir leben in einer schlechten Zeit. Die Hitlers sind am Werk, die sind nicht totzukriegen". Sie warnte vor neuen Nazis.
Romeo Franz, erster deutscher Sinto im Europaparlament, ist ein guter Freund Zilli Schmidts gewesen. Auch in seiner Familie gibt es Auschwitz-Opfer, auch er wurde auf dem Schulweg als "dreckiger Zigeuner" beschimpft und geschlagen. Romeo Franz kannte die Ängste Zilli Schmidts vor Antiziganismus und Rechtsnationalismus: "Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich dagegen einsetze."
Nicht vergessen, was mit den Sinti passiert ist
Zilli Schmidt ist trotz ihrer Verfolgungsgeschichte nicht verbittert gewesen, sie hat das Leben mit viel Humor gemeistert, konnte laut und ansteckend lachen. Wie hat sie es geschafft, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiterzuleben und offen auf andere zuzugehen? Ihre Antwort: "Es sind nicht alle Nazis, sind viele gute Menschen." Denen wird diese besondere Jahrhundertzeugin fehlen.
Zilli Schmidt starb mit 98 Jahren nach einem Krankenhausaufenthalt zuhause in Mannheim. Ihr Glaube trug sie auch in diesen Tagen. Sie habe sich darauf gefreut, ihre Liebsten wiederzusehen, sagte eine Freundin der DW. Ihr Buch hatte Zilli Schmidt mit diesen Worten beendet:
"Ich will, dass die Welt erfährt, was mit den Sinti passiert ist. Ich will, dass sie wissen, was da war in den Lagern, was sie mit den armen Kindern gemacht haben. Ich will, dass sie wissen, wie das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb war. Das will ich ihnen sagen, solange ich es kann, und ich will, dass es auch später die Menschen nachlesen können und nicht vergessen. Aber jetzt, jetzt macht die Zilli Schluss."
Dieser Artikel erschien erstmals am 21.10.2022 und wurde am 24.10.2022 aktualisiert.
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.