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Erinnerungskultur in Deutschland: gescheitert oder verkannt?

27. Januar 2025

An diesem 27. Januar gedenkt Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Es ist eine Erinnerungskultur mit Routinen - oft kritisiert, aber vielleicht auch missverstanden.

Erinnerungskultur, Demonstration gegen Rechts in Bünde/NRW, Teilnehmende von hinten fotografiert, eine der Personen hält ein Schild mit dem Schriftzug "Nie wieder ist jetzt"
Nein zur Nazi-Ideologie: Es gibt viele Wege, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und Lehren daraus zu ziehenBild: Noah Wedel/picture alliance

Die Fahnen auf Halbmast, im Bundestag liegen Kränze vor dem Rednerpult. Viele Abgeordnete und Gäste tragen schwarz. Es gibt Reden und andächtigen Applaus, Jahr für Jahr.

Es ist Ende Januar in Deutschland, rund um den 27. Januar, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus (NS), international bekannt als Holocaust-Gedenktag. Es ist der Jahrestag der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz am 27. Januar 1945 - vor genau 80 Jahren. Das Gedenken ist ein zentrales Element der deutschen Erinnerungskultur.

In Deutschland gibt es über 300 Gedenkstätten und NS-Dokumentationszentren, Schüler und Schülerinnen nehmen den Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht durch. Einige besuchen Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager in Deutschland. Sie werden aufgeklärt über die Gräuel, die dort verübt worden.

Eine Wanderausstellung erinnert an öffentlichen Orten wie hier im Bahnhof Leipzig an die Überlebenden der NS-VerfolgungBild: Jan Woitas/picture alliance/dpa

Es gab großangelegte Kriegsverbrecher-Prozesse wie die Auschwitz-Prozesse, Unternehmen haben ihre Verstrickungen mit NS-Verbrechen nachgezeichnet. Bis heute stehen inzwischen hochbetagte Aufseher und Aufseherinnen der NS-Mordanstalten vor Gericht.

Es ist die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Das nationalsozialistische Deutschland entfachte den Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten und war verantwortlich für die systematische Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden und Jüdinnen. Dazu kommen Hunderttausende weiterer Opfer des NS-Terrors: Sinti und Roma ebenso wie politische Gegner der Nazis, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen.

Was ist die deutsche Erinnerungskultur?

Fragt man die Politologin und Publizistin Saba-Nur Cheema klingt es simpel: "Erinnerungskultur ist ein kollektives Wissen über und Erinnern an die Vergangenheit. Speziell auf Deutschland bezogen, ist es ganz zentral die Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus." Hinzu kommt in den vergangenen Jahren auch immer mehr die Erinnerung an die ostdeutsche SED-Diktatur und die Zeit des Kolonialismus.

Jüngere könnten meinen, Deutschland hätte schon immer eine Erinnerungskultur gepflegt. Dabei soll Fritz Bauer, der Generalstaatsanwalt, der in Frankfurt gegen größte Widerstände die Verbrechen in Auschwitz vor Gericht brachte, noch in den 1960er Jahren gesagt haben: "Wenn ich mein Büro verlasse, beginnt das Feindesland". Bauer, selbst Jude, hatte die NS-Zeit nur durch seine Flucht nach Schweden überlebt.

Schändung einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus mit einem Hakenkreuz im Juli 1969Bild: Konrad Giehr/picture alliance

Der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus wird in Deutschland erst seit 1996 begangen. Ein offizieller Feiertag wurde er nie.

Erinnerung und Gedenken: von rechts bedroht

Bis heute ist das Gedenken an NS-Verbrechen Ziel von Anfeindungen - besonders von rechtsextremer und rechtspopulistischer Seite. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens Christian Wagner, positioniert sich in Thüringen klar gegen die in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) - und wird seither bedroht, wie er auf X schreibt.

"Fast alle Gedenkstätten sind konfrontiert mit Vandalismus und Holocaustleugnung. Was man aber auch beobachten kann, ist, dass sich die Diskussionslage vor Ort verschärft", sagt Veronika Hager von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ). "Aussagen, die wir vor zehn Jahren noch gesamtgesellschaftlich als relativ extrem zurückgewiesen hätten, erhalten mittlerweile viel mehr Zuspruch."

Erst kürzlich sagte AfD-Chefin Alice Weidel in einem TV-Interview: "Es ist außer Zweifel, dass Adolf Hitler ein antisemitischer Sozialist war und der Antisemitismus ist vornehmlich links." Die Aussage reiht sich ein in frühere Behauptungen ihrer Parteikollegen wie die, dass die NS-Zeit ein "Vogelschiss der Geschichte" gewesen sei.

"Das Ziel ist es, aufzuweichen, so dass wir am Ende gar nicht mehr darüber sprechen, was geschehen ist. Mit der Gefahr, dass die Gefahr von rechtsnationalistischen Gruppen gar nicht mehr greifbar und konkret ist", sagt Cheema.

Scheitert die Erinnerungskultur?

Michel Friedman gehört zu den Publizisten, die seit Jahren auf wachsenden Antisemitismus aufmerksam machen. Er kritisiert die Erinnerungskultur scharf. "Hätten wir unsere Hausaufgaben gemacht, würde jetzt nicht so ein schamloser und brutaler Judenhass wuchern", sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Nie wieder! Kampf um die Erinnerungskultur in Deutschland

12:34

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Für ihn - und das wird auch häufig von jüdischen Organisationen und Verbänden geäußert - ist die deutsche Erinnerungskultur zu ritualisiert und zu sehr in der Vergangenheit verortet. "Denn so wichtig es auch ist, sich mit den toten Juden zu beschäftigen: Unsere Verantwortung muss bei den lebenden Juden liegen. Und für die ist das Leben in Deutschland nicht gut."

Kein Allheilmittel gegen Antisemitismus

Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des brutalen Terrorangriffs der Hamas auf Israel mit 1200 Toten, schnellen auch in Deutschland die Zahlen antisemitischer Übergriffe in die Höhe. Für einige ein Beweis dafür, dass die Erinnerungskultur gescheitert sei.

Erinnerungskultur und der Schutz jüdischen Lebens - das wird in Deutschland häufig zusammen gedacht. Die Lehren aus der Vergangenheit sollen Verantwortung für heute bewirken. Während diese Verknüpfung in Teilen richtig sei, fordere sie etwas von Erinnerungskultur, das diese kaum leisten könne, sagt Joseph Wilson, Fachreferent "Handeln gegen Antisemitismus" bei der Stiftung EVZ.

"Erinnerungskultur ist nicht das gleiche wie Antisemitismusprävention und -bekämpfung", sagt Wilson. Das Mitgefühl, das man vielleicht bei einem Gedenkstättenbesuch empfinde, übersetze sich nicht automatisch in die Gegenwart und führe nicht dazu, dass Menschen antisemitische Codes und Verschwörungstheorien erkennen.

"Wir müssen stattdessen feststellen: Unsere Antisemitismus-Präventionskonzepte sind in Teilen gescheitert", sagt Wilson.

Erinnerungskultur - oder viele Erinnerungskulturen?

Die Erinnerungskultur in Deutschland hat viele Zerwürfnisse erlebt. Es gab Historikerstreite und Debatten in Feuilletons etwa um die Singularität der NS-Verbrechen. Der 7. Oktober 2023 und der anschließende Gaza-Krieg mit Zehntausenden Toten stellen sicherlich eine weitere Zäsur dar. Denn er hat auch in Deutschland Verwerfungen offengelegt.

Eine davon ist, wie unterschiedlich das häufig geäußerte "Nie wieder ist jetzt" verwendet wird. Gemeint ist damit, dass sich die Gräuel des Nationalsozialismus nicht wiederholen dürfen. Viele leiten daraus eine Solidarität mit Israel und Juden und Jüdinnen ab. Der Slogan wird aber auch auf pro-palästinensischen Demonstrationen genutzt.

Demonstranten einer pro-palästinensischen Kundgebung in Mannheim haben Banner gespanntBild: Udo Herrmann/CHROMORANGE/picture alliance

Spätestens seit Angela Merkels berühmter Rede im israelischen Parlament im Jahr 2008, in der sie Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärte, wird die Verantwortung für das Überleben des jüdischen Staates häufig zur Erinnerungskultur gezählt. Für manche ein Zeichen dafür, dass die deutsche Erinnerungskultur nicht inklusiv sei und nicht gemacht für eine moderne Einwanderungsgesellschaft.

Saba-Nur Cheema widerspricht: "Ich würde nicht sagen, dass sie nicht dafür gemacht ist. Denn die Zivilgesellschaft gestaltet die Erinnerungskultur selbst." Aber die Begründung zu Beginn des Gaza-Kriegs, Deutschland stünde einzig wegen der Geschichte an der Seite Israels, habe zu "Kritik auch unter vielen migrantischen Jugendlichen geführt". Die fragten sich: "'Warum leiden jetzt die Palästinenser so?' Das ist überhaupt nicht schlimm, diese Frage zu stellen."

Saba-Nur Cheema bewertet beispielsweise den Slogan "Free Palestine from German Guilt", der auf Demonstrationen vor allem in Berlin gerufen wurde, zunächst als eine politische Botschaft, nicht als Angriff auf die Erinnerungskultur. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hingegen bewertet den Slogan in einem Bericht als "Wunsch nach einem 'Schlussstrich' unter die NS-Vergangenheit".

"Free Palestine from German Guilt" steht auf einem Schild auf einer Demonstration vor dem Auswärtigen Amt in BerlinBild: Annette Riedl/dpa/picture alliance

Womöglich sind Diskussionen wie diese ein Zeichen dafür, dass es nicht nur eine, sondern viele Erinnerungskulturen in Deutschland gibt.

Gedenken bleibt wichtig

Für Veronika Hager von der EVZ könnte ein Weg so aussehen: "Im Lebensumfeld gibt es so vieles, das man sich ganz konkret anschauen kann". Das könnte sein, dass sich Auszubildende mit dem eigenen Unternehmen in der NS-Zeit befassen oder wer in einem bestimmten Haus gewohnt hat und dann ermordet wurde. Das könne mit Jugendlichen mit oder ohne Migrationsgeschichte geschehen.

Worüber generell in Deutschland wenig gesprochen wird, sind die Täterbiografien in der eigenen Familie. Michel Friedman bezeichnete das einmal so: "Wissen Sie, es gibt Millionen von Zeitzeugen! Schauen Sie, was Ihre Großeltern, Großtanten und -onkel gemacht haben!"

Es könnte ein nächster Schritt der Erinnerungskultur in Deutschland sein. "Ich wünsche mir nicht den Punkt, an dem wir sagen: So, jetzt haben wir die perfekte Erinnerungskultur und wir machen ein Häkchen dran", sagt Hager. "Für mich ist das immer etwas Diskursives, das sich bewegt und entwickelt."

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