1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftDeutschland

Holocaust-Gedenken: Kinderjahre im KZ

27. Januar 2022

Inge Auerbacher überlebte die Hölle von Theresienstadt. In der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus berichtet sie von ihrem Schicksal und ihrer besonderen Verbindung zu Berlin.

Berlin Bundestag Holocaust-Gedenktag  | Rede Inge Auerbacher Überlebende
Die Holocaust-Überlebende Inge Auerbacher spricht in der Gedenkstunde für die Opfer des NationalsozialismusBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"Ich bin ein jüdisches Mädel aus dem badischen Dorf Kippenheim." So stellt sich Inge Auerbacher vor, als sie in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus spricht. Für diese seit 1996 stattfindende Veranstaltung hat die 87-Jährige den weiten Weg aus den USA nach Deutschland auf sich genommen. Um von ihrer frühen Kindheit zu erzählen, der Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt und dem neuen Leben in einem fernen Land.

Die Puppe Marlene kommt mit ins KZ Theresienstadt

Geboren wird Inge Auerbacher am 31. Dezember 1934. Die Nationalsozialisten sind seit Januar 1933 an der Macht. "Juden und Christen lebten friedlich zusammen", erinnert sie sich an ihre frühe Kindheit. Doch schon bald spürt sie Ausgrenzung, muss öffentlich den stigmatisierenden gelben Judenstern tragen, wird von anderen Kindern schikaniert. Als sie knapp sieben Jahre alt ist, beginnen die Deportationen von Juden Richtung Osten. "Meine selige Oma wurde von den Nazis ermordet."  

Die Hoffnung der Eltern, mit ihrem einzigen Kind Deutschland verlassen zu können, zerschlägt sich. Im August 1942 wird die kleine Familie in einem Transport mit rund 1100 Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Vor dem Abtransport bangt das Mädchen um seine geliebte Puppe, die ihr ein Aufseher aus den Armen reißt. "Tränen gossen sich über meine Wangen. Ich war überglücklich, als er meine Puppe Marlene wieder in meine Hände gab."

Besucher auf dem Friedhof des früheren Konzentrationslagers Theresienstadt im heutigen TschechienBild: Petr D. Josek/AP/picture alliance

"Das ganze Leben drehte sich um Essen"

Im KZ müssen alle eng zusammengepfercht auf mehrstöckigen Pritschen mit Strohsäcken schlafen. Toiletten sind weit entfernt. Der Hunger ist allgegenwärtig. Die wichtigsten Wörter seien Brot, Kartoffeln und Suppe gewesen. "Das ganze Leben drehte sich um Essen."

Der Spielplatz für Kinder ist ein "faul riechender Abfallhaufen". Stundenlang wühlen sie darin herum und hoffen einen "Schatz" zu finden: "halb verfaulte Rüben und Kartoffelschalen, bei denen man noch einen essbaren Schnitz abschneiden konnte". Unter diesen unhygienischen Umständen gibt es immer wieder Epidemien wie Typhus. Überall tummeln sich Ratten, Mäuse, Flöhe und Wanzen.   

"Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um Dich zu besuchen"

Und dann erzählt Inge Auerbacher von ihrer aus Berlin stammenden Freundin Ruth, die sie in Theresienstadt kennengelernt hat. Die gleichaltrigen Mädchen fühlen sich wie Schwestern. Ihr Versprechen, sich später gegenseitig zu besuchen, können sie nicht einlösen: Ruth und ihre Eltern werden in Auschwitz vergast.

Fast acht Jahrzehnte später sitzt eine alte Dame im Bundestag und sendet ihrer von den Nazis ermordeten Freundin einen persönlichen Gruß: "Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um Dich zu besuchen."

Sie selbst und ihre Eltern haben Glück: 1945 erleben sie die Befreiung Theresienstadts durch die sowjetische Rote Armee, kehren für kurze Zeit nach Deutschland zurück und wandern 1946 aus. New York wird ihre neue Heimat.

Von dort beobachtet die Holocaust-Überlebende, wie sich der Antisemitismus erneut ausbreitet. "Leider ist dieser Krebs wiedererwacht." Judenhass sei in vielen Ländern der Welt wieder alltäglich, auch in Deutschland. "Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden."

"Der Antisemitismus ist mitten unter uns"

Wie schwierig das im Land der Täter ist, darauf geht Parlamentspräsidentin Bärbel Bas schon zu Beginn der Gedenkstunde ein: "Erinnern und Gedenken macht nicht immun gegen Antisemitismus, es schützt nicht vor Rassismus und Rechtsextremismus." Das Wissen um die Geschichte habe nicht verhindert, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung meint, die Juden hätten vielleicht doch zu großen Einfluss. "Der Antisemitismus ist mitten unter uns", sagt die Sozialdemokratin.

Parlamentspräsidentin Bärbel Bas: "Erinnern und Gedenken macht nicht immun gegen Antisemitismus"Bild: STEFANIE LOOS/AFP

Bis 1945 sind rund sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens dem mörderischen Antisemitismus der Nazis zum Opfer gefallen, darunter 20 aus Inge Auerbachs Familie. Sie selbst leidet nach drei Jahren in Theresienstadt lange unter einer schweren Lungenkrankheit - Folge der unmenschlichen Zustände in dem KZ.

Der Knesset-Präsident umarmt die Holocaust-Überlebende

In ihrer neuen Heimat Amerika studiert die junge Frau Chemie und arbeitet fast vier Jahrzehnte als Forscherin. Persönliche Wünsche bleiben unerfüllt: "Ich durfte nie ein Brautkleid tragen." Eigene Kinder hat sie nicht. "Aber ich bin glücklich und die Kinder der Welt sind meine", sagt sie. Ihr innigster Wunsch sei die "Versöhnung aller Menschen."

Knesset-Präsident Mickey Levy suchte nach seiner eigenen Rede im Bundestag Trost bei der Holocaust-Überlebenden Inge AuerbacherBild: STEFANIE LOOS/AFP

Inge Auerbacher beendet ihre bewegende Rede mit dem Appell, eine Kerze zur Erinnerung an die ermordeten, unschuldigen Kinder, Frauen und Männer zu entzünden. "Lasst uns gemeinsam einen neuen Morgen sehen! Dieser Traum soll nie, nie, nie wieder verloren gehen!", ruft sie mit gebrochener Stimme in den Plenarsaal des Bundestages.

Dort sitzen ihr die Parlamentsabgeordneten gegenüber, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz und viele weitere Gäste. Ein ganz besonderer Gast nimmt sie anschließend in die Arme und drückt sie fest an sich: Mickey Levy, Präsident der Knesset, des israelischen Parlaments.

In seiner Rede würdigt er Inge Auerbachers Engagement für Aussöhnung: "Mit der Beschreibung und Darstellung ihrer Erinnerungen an den Holocaust haben Sie eine herausragende, ungewöhnliche, menschliche Stimme geschaffen."

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen