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"Antisemitismus tritt periodisch auf"

Felix Schlagwein
27. Januar 2018

Éva Kiss gehört zu den wenigen Zeitzeugen, die den Holocaust in Ungarn überlebten. Im Gespräch mit der DW erzählt sie, wie sie damals der Deportation entging, und mahnt vor wachsendem Antisemitismus.

Eva Kiss
Bild: Joakim Medin

Deutsche Welle: Als Hitlers Truppen am 19. März 1944 Ungarn besetzten, waren Sie 23 Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?

Éva Kiss: Ich war zunächst einmal unangenehm überrascht. Schon vor Kriegsausbruch waren meine Träume mit dem zweiten Judengesetz eigentlich ausgeträumt. Als die Deutschen kamen, habe ich bei der Schwester eines Freundes gelebt. Sie und ihre Mutter wurden schnell einberufen und ich wollte sie zur Sammelstelle begleiten. Es stellte sich heraus, dass diese Sammelstelle eigentlich ein Gefängnis war, denn die Menschen wurden dort nicht registriert, sondern eingesperrt. Am Eingang sagte mir ein gutmütiger Polizist damals: "Sie können hier zwar rein, aber nicht wieder heraus." Und ich bin nicht hineingegangen. Mich hat man später auch einberufen.

Mehr als eine halbe Million ungarischer Jüdinnen und Juden wurden innerhalb weniger Monate deportiert, die meisten nach Auschwitz. Wie entgingen Sie damals der Deportation?

Ich hatte vor allem sehr viel Glück. Eine Freundin hat mir damals einen sogenannten Schutzpass gegeben. Damit war man relativ sicher. Woher sie den hatte, weiß ich bis heute nicht. Solche Papiere wurden damals in Budapest auch gefälscht. Ich selbst konnte damals auch Pässe fälschen lassen und damit glücklicherweise meiner Mutter, einer Freundin und ihrem zweijährigen Sohn das Leben retten.

Eva Kiss mit Judenstern, Ende 1944Bild: DW/F. Schlagwein

Auch die von Diplomaten neutraler Länder ausgestellten Schutzpässe bedeuteten keine absolute Sicherheit, vor allem nach der Machtübernahme der Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálosi. Das war ein Terrorregime.

Das stimmt. Man durfte zwar zu bestimmten Zeiten vor die Tür gehen und gewisse Dinge wie beispielsweise den Einkauf erledigen. Aber frei waren wir nicht. Ständig waren wir der Gefahr willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Eines Abends war ich außerhalb der erlaubten Zeiten und mit dem gelben Stern Brust auf der Straße und ein Polizist fragte mich, was ich dort zu suchen hätte. Ich antwortete damals schnippisch, er solle mich in Ruhe lassen. Er hätte mich dafür an Ort und Stelle erschießen können, aber er wies mich stattdessen an, sofort nach Hause zu laufen. Und ich bin nach Hause gelaufen.

Ich wohnte außerhalb des Ghettos, wo ich mit meinem schwedischen Schutzpass halbwegs sicher war. Aber ja, auch dort kamen die Pfeilkreuzler hin und holten die Leute ab und schossen sie anschließend in die Donau. Aber ich hatte Glück. Meine Mutter und mich haben sie nicht geholt. Als der Krieg dann endlich vorbei war, war ich zum ersten Mal in meinem Leben ein gleichberechtigter Mensch. Im Herbst 1945 war ich dann schon an der Universität in Szeged, wo ich Medizin studierte und meinen Mann kennenlernte, mit dem ich dann 66 Jahre bis zu seinem Tod zusammengelebt habe.

Ihr späterer Mann kam nach der Besatzung durch die deutschen Truppen erst nach Auschwitz und dann in ein anderes Arbeitslager, ebenfalls im heutigen Polen. Er überlebte.

Die Probe des Konzentrationslagers blieb mir zum Glück erspart. Dort war man in ständiger Lebensgefahr, es herrschten Hunger und der Geruch von Tod. Dass mein Mann trotz dieser Strapazen seine Persönlichkeit behalten hat, habe ich immer sehr bewundert. Was ihm auf jeden Fall geholfen hat, war, dass er schon einen Tag nach der Besatzung deportiert wurde und im arbeitsfähigen Alter war.

Gedenktafel für Raoul Wallenberg, der in Budapest tausenden Juden das Leben retteteBild: DW/F. Schlagwein

Er suchte damals am Budapester Hauptbahnhof nach seiner Mutter, die, nachdem die deutschen Truppen einmarschiert waren, zurück nach Hause auf's Land fahren wollte. Mein Mann sorgte sich um sie und versuchte sie zu finden. Am Bahnhof haben sie ihn dann aufgelesen und anschließend deportiert. Da waren aber noch Plätze in anderen Arbeitslagern frei, so musste er nicht die gesamte Zeit in Auschwitz verbringen. Auch von Vorteil war, dass er schneidern konnte. Damit genoss er einige Privilegien.

Wachsender Antisemitismus ist auch heute wieder ein Problem und nicht nur ein ungarisches Phänomen. Können Sie Parallelen zu damals ausmachen?

Man muss sagen, dass es noch nicht auf eine Stufe zu stellen ist. Aber hier wurden durch rassistische Hetze schon Zigeuner getötet. Antisemitismus ist ein sehr altes Phänomen und nach all den Büchern, die ich in meinem langen Leben gelesen habe, weiß ich, dass er periodisch auftritt - mal stärker, mal schwächer. Momentan befinden wir uns in einer schlechten Periode. Wie damals unter dem Horthy-Regime [Admiral Horthy regierte von 1920-1944, Anm. der Redaktion] versucht man, das Volk zu blenden. Man stützt sich lieber auf Dinge wie den Sport, während das Bildungs- und Gesundheitssystem vernachlässigt werden.

Mittels Manipulation möchte man heute Wählerstimmen gewinnen. Der Großteil der Medien in Ungarn wird schrecklich manipuliert. Sie brauchen ja auch keine denkenden Menschen, sie brauchen gute Untertanen. Da ist die aktuelle Situation der Horthy-Zeit schon sehr ähnlich. Die größte Gefahr sehe ich aber im technischen Fortschritt. Die technischen Möglichkeiten sind heutzutage sehr viel größer und man kann sie für jeden Zweck gebrauchen.

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Heute wird an diesem Datum weltweit den Opfern des Holocaust gedacht. Éva Kiss hat als eine von wenigen ungarischen Jüdinnen und Juden den Massenmord durch die deutschen und ungarischen Nationalsozialisten überlebt. Wir haben die 97-jährige in ihrer Wohnung in Budapest getroffen.

Das Gespräch führte Felix Schlagwein.

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