"Du musst erzählen, was sie gemacht haben"
26. Januar 2020Erna de Vries sitzt gerne unter ihrem Magnolienbaum, genießt die Sonnenstrahlen, die frische Luft. Doch draußen erinnert sie jeden Tag auch irgendetwas an Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit. Ein Stück Brot, das auf der Erde liegt zum Beispiel. Dann denkt Erna de Vries an ihren Hunger von damals und findet, es dürfe nicht sein, dass jemand Brot einfach so wegwirft. Oder sie sieht eine Birke und vor ihren Augen erscheint das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
Dorthin deportierten die Nationalsozialisten 1943 ihre jüdische Mutter. Erna de Vries selbst wollten die Nazis verschonen, ihr früh verstorbener Vater war evangelisch, sie also im Nazijargon eine "Halbjüdin". Da sie aber nicht alleine zurückbleiben wollte, folgte sie ihrer Mutter in das Vernichtungslager, in dem bis 1945 mehr als eine Million Menschen ermordet werden sollten. Darunter vermutlich auch Erna de Vries' Mutter.
Wenn de Vries von den Jahren im Lager berichtet, blickt sie nachdenklich, wirkt gleichzeitig aber auch sehr gefasst.
"Du musst kämpfen, du musst überleben und erzählen, was sie mit uns gemacht haben."
Erna de Vries hat ihre Geschichte schon oft erzählt. Unterwegs. Vor Schülern, in ihrer Heimatgemeinde in Norddeutschland, an der Universität in der nahegelegenen Großstadt. Den Antrieb dafür geben ihr immer noch die Worte ihrer Mutter, die sie an sie richtete, als sie sich zum letzten Mal sahen: "Erna du musst kämpfen, du musst überleben und erzählen, was sie mit uns gemacht haben."
"Mich von meiner Mutter zu verabschieden, war in der Lagerzeit das Allerschwerste", sagt Erna de Vries. "Ich wusste ja genau, dass sie aus Auschwitz nicht wieder herauskommt." Mit 96 Jahren fällt es de Vries zunehmend schwer, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen. Sie sieht nicht mehr sehr gut, hört nur, wenn man laut und deutlich nahe an ihrem Ohr spricht, für kleine Spaziergänge braucht sie ihre Gehhilfe, die sie den "Rolls-Royce unter den Rollatoren" nennt.
Deshalb ist Erna de Vries froh, dass es jemanden gibt, der ihre Erinnerungen weiterträgt. Jemanden wie Vanessa Eisenhardt.
Die 30 Jahre alte Geschichtsdoktorandin nennt sich "Zweitzeugin" und ist Mitglied im Verein "Heimatsucher", der sich mit Überlebenden des Holocaust trifft, ihre Geschichten sammelt und erzählt. Vanessa hat Erna de Vries an diesem sonnigen Frühlingstag einen Stapel Briefe von Schülern mitgebracht. Am Tag zuvor hatte sie in einem Gymnasium in Bayreuth in Süddeutschland de Vries' Geschichte erzählt und die Schüler dann gebeten, ihre Gedanken für de Vries aufzuschreiben.
Erinnern ohne Zeitzeugen
Vanessa Eisenhardt und andere "Zweitzeugen" sind alle paar Wochen in ganz Deutschland unterwegs, um an Schulen über Erna de Vries oder andere Überlebende des Holocaust zu sprechen. Ihr Verein hat die Erinnerungen von rund 35 Zeitzeugen in Israel, Deutschland und anderen europäischen Ländern gesammelt und mit ihnen über die Jahre hinweg ein sehr enges Verhältnis gepflegt. Einige von ihnen leben noch, viele sind inzwischen verstorben.
In Bayreuth erzählt Eisenhardt nicht nur über das, was de Vries während der Nazizeit erlebt hat, sondern auch über das Davor und das Danach: über de Vries' Wunsch Ärztin zu werden, über ihre Arbeit als Krankenschwester, über ihren Mann, den sie nach dem Krieg kennenlernte, ihre drei Kinder, sechs Enkelkinder und über ihren lange gehegten - aber nie in die Tat umgesetzten - Wunsch, nach Israel auszuwandern.
Persönliche Geschichten gehen oft unter zwischen Fakten und Zahlen
Eisenhardt sagt, dass das Persönliche im Geschichtsunterricht oft zu kurz komme. "Große Zahlen, große Bilder, sechs Millionen ermordete Menschen." Das sei manchmal schwer greifbar. Mit Geschichten, wie der von Erna de Vries, will sie Schülern zeigen, wie die Nationalsozialisten in Deutschland ein Leben einschränken, zerstören konnten. Und wie sich die Vergangenheit auf das Heute auswirkt. "Solche Geschichten zeigen, was passiert, wenn man Rassismus und Antisemitismus Raum gibt und das zulässt. Soweit zulässt, dass es dann nicht mehr änderbar ist."
In Bayreuth beeindruckt die Schüler besonders die Bitte von Erna de Vries' Mutter zu kämpfen und weiterzutragen, was ihr und anderen Juden widerfahren ist. "Ich war ganz kurz davor zu weinen", sagt die 14-jährige Ambra Rizzo. "Ihren Willen zu überleben und die Geschichte zu erzählen fand ich toll."
Es habe sie bewegt, dass die Mutter nicht einfach gesagt habe "Tschüss, ich liebe dich, ich werde dich nie wieder sehen", sondern Erna gebeten habe, zu kämpfen und weiterzumachen, findet Sanya Schuberth, 15. Und sie warnt: "Ich denke, dass man manchen Menschen die Augen öffnen sollte, weil sie der Meinung sind, so etwas kann nie mehr passieren." Sanya, Ambra und die anderen Schüler sollen jetzt die Geschichte von Erna de Vries weitererzählen, als "Zweitzeugen".
"Ich habe so viel Respekt vor dir."
Zurück bei Erna de Vries in ihrem Haus in Norddeutschland, liest Vanessa Eisenhardt aus Sanyas Brief vor:
"Liebe Erna, ich bin sicher, dass du eine ganz tolle und tapfere Frau bist. Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Ich habe so viel Respekt vor dir."
Erna de Vries lächelt und erzählt, dass sie inzwischen eine ganze Kiste mit Briefen von Schülern zu Hause habe. Natürlich freue sie sich darüber, dass sie akzeptierten, dass man ihnen ihre Geschichte erzähle. "Vielfach sind Menschen gar nicht interessiert."
Mit ihrem Rollator bewegt sich Erna de Vries wieder aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse unter ihren blühenden Magnolienbaum. Vor zwei Tage seien die Blüten noch schöner gewesen, langsam verwelkten sie. De Vries ist dankbar, dass sie nach dem Krieg ein gutes Leben hatte mit gesunden Kindern und Enkelkindern. Ihrem Mann und ihr habe es immer eine gewisse Genugtuung gegeben, dass die Nazis es nicht geschafft hätten, sie alle umzubringen. Jetzt setzt sie darauf, dass Menschen wie Vanessa Eisenhardt ihre Geschichte immer weiter erzählen, "dass das doch irgendwie in den Köpfen bleibt und nicht ganz vergessen wird."