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Holodomor: "Es gibt nichts Schlimmeres als Hunger"

Iryna Ukhina
24. November 2023

Hanna Domanska hat als einzige ihrer Familie den Völkermord in den 30er Jahren in der Ukraine überlebt. 90 Jahre später spricht die 1927 geborene Zeitzeugin über die Qualen der Großen Hungersnot in der Sowjetunion.

Hanna Domanska sitzt in der Küche ihres Hauses und auf dem Tisch ist Brot zu sehen
In der Küche erzählt Hanna Domanska von der Hungersnot in der Ukraine 1932/33Bild: DW

"Kommen Sie herein, das Großmütterchen wartet schon", sagt liebevoll Mychajlo Domanskyj. Er ist der Sohn von Hanna Domanska, einer Augenzeugin des Holodomor von 1932/33.

Das ukrainische Wort Holodomor bedeutet: "Mord durch Hunger". Der Begriff steht für die von der Sowjetführung vor 90 Jahren verursachte Große Hungersnot , bei der sechs bis sieben Millionen Menschen ums Leben kamen. 

Hanna Domanska hat ihrem Sohn viel über die Katastrophe erzählt, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine besonders viele Opfer forderte. Die 96 Jahre alte Frau sitzt in einem Zimmer, auf dem Bett liegen bestickte Kissen, an den Wänden hängen Familienfotos.

Im Haus von Hanna Domanska im ukrainischen Dorf SewerynyBild: DW

Hanna Domanska lebt noch allein in ihrem Haus im Dorf Seweryny in der Region Chmelnyzkyj, das heute 230 Einwohner zählt. Als das Sterben in der damaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik begann, war sie erst fünf Jahre alt. 

Vertreibung, Verschleppung und Verbannung

Sie wuchs in einer großen Familie auf. Ihre Großeltern hatten acht Kinder - vier Söhne, einer davon Hannas Vater, und vier Töchter. Sie selbst hatte einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester.

Es sei eine fleißige, aber nicht wohlhabende Familie gewesen, sagt sie. Ihr Großvater Marko Schwedjuk hatte etwas Land und ein Pferd, aber keine Kühe. Er teilte seinem Sohn, Hannas Vater, einen Teil seines Landes zu, auf dem dieser ein Haus baute.

Doch in dem neuen Zuhause lebte die junge Familie nur ein halbes Jahr. Denn Anfang der 30er Jahre erhöhte die sowjetische Führung unter Stalin das Abgabensoll für Getreide um fast 50 Prozent. Die Bauern, die diese Forderungen weder erfüllen konnten noch wollten, wurden als "Kulaken" zum Hauptfeind der Kommunisten. 

"Sie nahmen alles weg"

"Es kamen irgendwelche Parteibosse und Jungkommunisten ins Haus, nahmen alles weg, restlos alles", erinnert sich die alte Frau. Ihr zufolge nahmen die Vertreter der sowjetischen Behörden den Menschen auch ihre Lebensmittel weg.

Sie hätten sogar in den Öfen nach gekochtem Essen gesucht. "Sie aßen einfach auf, was sie fanden, oder nahmen es mit", so Hanna Domanska.

Hanna Domanska wurde 1927 in ihrem Heimatdorf Seweryny geborenBild: DW

Hinzu kam, so die Augenzeugin jener Ereignisse, dass meist die hart arbeitenden Bauern verschleppt wurden. "Sie waren auf die Menschen aus, die wirtschaften konnten, nicht faul waren, denen es etwas besser ging, und sie nahmen sie mit", erzählt Hanna Domanska.

Ein Drittel der Dorfbewohner sei aus ihren Häusern vertrieben und ihr gesamtes Eigentum und Vieh in einen kollektiven Landwirtschaftsbetrieb, Kolchose genannt, überführt worden.

Viele der Menschen seien nach Sibirien verbannt worden, darunter die Hälfte der Familie Schwedjuk: Großvater Marko, Großmutter Pestyna, die damals 15-jährige Tante Sekleta, Vater Wasyl und Onkel Todos.

Von all ihren Angehörigen sei später nur die Tante ins ukrainische Heimatdorf zurückgekommen. Sie sei aus Sibirien geflohen und drei Jahre zu Fuß zu ihrer Schwester Olha unterwegs gewesen.

Mutter, Bruder und Schwester sterben

Nachdem ihr Vater verschwunden sei, habe sich ihre Mutter Olha auf die Suche nach ihrem Mann gemacht. Kurz nach der Geburt ihres jüngsten Kindes sei sie zu Fuß in ein Dorf gegangen, in dem die Sowjets eine Sammelstelle für "Kulaken" eingerichtet hätten.

Diese mussten dort auf ihren Abtransport nach Sibirien warten. Auf dem Weg dorthin habe sich ihre Mutter erkältet und dann an einer Lungenentzündung erkrankt. Ihren Mann habe sie zwar ausfindig machen können, doch freigelassen worden sei er nicht. Kurz darauf verlor ihre Mutter ihre neugeborene Tochter.

Hanna Domanska vor ihrem HausBild: DW

Nachdem die Hälfte der Familie nach Sibirien verbannt worden war, kamen Regierungsvertreter, um ihre Mutter und ihre beiden Kinder zu holen. "Sie sagten: 'Macht euch fertig, ein Lastwagen wird kommen'", erinnert sich Hanna Domanska.

Und erzählt weiter: "Meine Mutter lag bereits im Sterben. Sie starb neben meiner Tante. Auch mein zweijähriger Bruder verhungerte. Ich überlebte. So blieb ich bei meiner Tante, deren Beine vor Hunger auch schon geschwollen waren. Aber sie hatte keine Kinder und sorgte für mich."

Brei aus Gänsefüßen

Um zu überleben, musste die kleine Hanna ständig nach Nahrung suchen. Im Frühling machte sie sich auf die Suche nach essbaren Pflanzen, meist Gänsefüße.

"Dann kam der Sommer, und die Akazien blühten, alles blühte, wir ernährten uns davon. Als wir in der Kolchose mit dem Dreschen begannen, da gab es schon viel Unkraut. Da haben wir uns diese Gänsefüße geschnappt und daraus einen Brei gekocht. Der knirschte zwar zwischen den Zähnen, aber irgendetwas mussten wir essen."

Lebensmittel habe es keine gegeben. "Aus was sollte man zuhause etwas kochen? Es gab nichts! 1933 kochten wir nur Süppchen. Meine Tante brachte ein wenig Mehl mit, verrührte es mit Wasser, und das tranken wir. Wir mussten arbeiten, wir mussten doch irgendetwas zu uns nehmen", sagt Hanna Domanska.

Damals habe man ein Tuch gegen zwei Kartoffeln oder ein Stück Brot eintauschen können. Für Geld etwas in einem Laden zu kaufen, sei unmöglich gewesen.

Katastrophale Lage in den Dörfern

Am schlimmsten sei es 1933 gewesen, da habe es die meisten Toten gegeben, so die Augenzeugin: "Alle Menschen lagen nur noch herum, die einen dort, die andern da, manche waren schon tot. Man stapelte die Leichen wie Brennholz aufeinander, schlug ein, zwei, drei Bretter zusammen, legte sie hinein und brachte sie zum Friedhof." 

Hanna Domanska mit ihren Ausweis in ihrem HausBild: DW

Hanna Domanska erinnert sich, dass es damals im Dorf nicht einmal mehr Hunde und Katzen gab, weil alle Tiere gegessen wurden. Von ihrer Tante erfuhr sie, dass es auch Fälle von Kannibalismus gegeben haben soll.

"Es gibt nichts Schlimmeres als Hunger. Wie soll man schlafen, wenn man tagelang nichts isst? Man kaut dann, was man findet, Blätter von Bäumen, irgendwas eben, Hauptsache, es gib etwas zu essen", sagt Hanna Domanska.

Während sie ihre Geschichte über den Holodomor erzählt, macht sich Hanna Domanska Sorgen, man könnte ihr nicht glauben. "Aber das ist die Wahrheit. All das liegt mir auf dem Herzen. Ich erzähle, was ich gesehen habe", betont sie.

Von der Sowjet-Führung organisiert

Über den Holodomor offen reden konnte man in der Ukraine erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Vorher musste man fürchten, dafür inhaftiert zu werden.

Laut ukrainischen Historikern starben in den 1930er Jahren in der Ukraine fast vier Millionen Menschen an den Folgen des Großen Hungers. Im Jahr 2006 stufte das Parlament der Ukraine den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk ein. Der Deutsche Bundestag erkannte im November 2022 den Holodomor als Völkermord an.  

Nach dem Holodomor überlebte Hanna Domanska noch den Zweiten Weltkrieg. Wer in ihrem Dorf nicht verhungert sei, sei im Krieg umgekommen, sagt sie.

Auch ihr Vater, der nach Sibirien verschleppt worden war, verlor später an der Front sein Leben. Sie selbst sei während des Krieges fast zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden.

Zusammen mit anderen jungen Ukrainern habe sie sich in leerstehenden Häusern und in benachbarten Dörfern versteckt. "Einige wurden gefangen und verschleppt, aber ich war nicht darunter", sagt sie.

Jetzt muss Hanna Domanska einen weiteren Krieg durchmachen - den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Aber sie glaubt, dass das ukrainische Volk die Invasoren besiegen wird.

"Die Ukraine wird sich ihnen nicht ergeben. Die Ukraine wird sie besiegen", sagt sie voller Zuversicht.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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