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PolitikEuropa

Homophobie in Ungarn: "Viele glauben die absurde Propaganda"

Zsolt Reviczky
11. Oktober 2022

Der Tag, als Ungarns Premier Viktor Orban Homosexuelle mit Pädophilen verglich, war für unseren Kolumnisten, den Budapester Fotografen Zsolt Reviczky, ein Wendepunkt in seinem Leben.

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Demonstration gegen das sogenannte Gesetz gegen Homo-Propaganda auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament in Budapest am 14.06.2021Bild: Zsolt Reviczky

An einem Morgen im Oktober 2020 schaltete ich in meiner Budapester Wohnung das staatliche ungarische Radio ein. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban spricht dort regelmäßig, ich höre mir das oft an. An diesem Morgen zog er in dem Gespräch eine Parallele zwischen Homosexualität und Pädophilie. Er sagte, die Ungarn seien ein geduldiges Volk, was Homosexualität angehe, aber es gebe eine rote Linie, und die laute: "Lasst unsere Kinder zufrieden!"

Ich konnte es nicht fassen, dass Orban Homosexuelle mit Kinderschändern verglich. Es war schrecklich, diese niederträchtige, zum Himmel schreiende Lüge zu hören, die er vor einer großen Zuhörerschaft ausbreitete. Für mich war dieser Augenblick ein Wendepunkt in meinem Lebensgefühl in Ungarn. Ich fragte mich: Wie viele homosexuelle Jugendliche, die gerade ihre Sexualität entdecken und ohnehin tiefe Zweifel haben, stürzt das jetzt in Selbstmordgedanken?

"Schützen wir unsere Kinder!" Werbeplakat der ungarischen Regierung für ein Referendum im April 2022, bei dem Homosexualität und Pädophilie gleichgesetzt werden.Bild: Reviczky Zsolt

Orbans Worte waren damals der vorläufige Höhepunkt der homophoben Rhetorik. Noch vor einigen Jahren spielte sie in Ungarn keine große Rolle, aber 2017, 2018 begann Orban, Homophobie zu einem Kampagnenthema in breitem Ausmaß zu machen. Das traf damals noch nicht auf ganz so offene Ohren wie heute. Doch Orban ist jemand, der konsequent versucht, jegliche Art von Solidarität in der Gesellschaft zu beseitigen und darauf abzuzielen, dass die Leute gegeneinander hetzen, und das funktioniert relativ gut, auch bei diesem Thema.

Der Hass wird größer

Seit der Verabschiedung des Gesetzes gegen sogenannte Homo-Propaganda 2021 ist die Gesellschaft immer mehr vergiftet. Inzwischen assoziiert ein Teil der Leute in Ungarn Homosexualität wirklich mit Pädophilie. Ich denke, die ungarische Gesellschaft ist an einem Wendepunkt angekommen, an dem die Stimmung gegen Homosexuelle, der Hass auf uns immer größer wird.

Mir persönlich merkt man es nicht unbedingt an, dass ich schwul bin, aber in meinem Freundeskreis haben manche von denjenigen, die etwas weiblicher sind, schon negative Erfahrungen gemacht. Ein Freund von mir wurde im Juni 2021 im Zentrum von Budapest von einer Gruppe von Männern homophob beleidigt und auch angegriffen, und zwar so schlimm, dass er hinterher ins Krankenhaus musste.

"Homophobe Propaganda ist eine Sünde"

Es war nie leicht, in Ungarn schwul oder lesbisch zu sein. Ich persönlich habe aber eher Glück gehabt. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Homosexualität nie ein Thema war und es daher auch keinen Druck auf mich gab. Als ich entdeckte, dass ich schwul bin, erschien es mir zunächst als etwas Natürliches. Das war in der Pubertät, so mit 13, 14 Jahren. Mir ist damals einfach aufgefallen, dass ich nicht in unsere hübsche Physiklehrerin, sondern in unseren Sportlehrer verliebt war.

Dennoch habe ich meine Homosexualität verheimlicht. Ein paar Jahre später hatte ich auch Schamgefühle - und als ich um die 16 Jahre alt war, kamen Selbstmordgedanken. Damit kämpfen viele jugendliche Homosexuelle. Gerade deshalb ist es nach meiner Ansicht eine sehr große Sünde, homophobe Propaganda zu machen, denn jugendliche Schwule sind sehr empfindsam und zerbrechlich.

Nicht mehr in der Lüge leben

Ich persönlich bin über diese Zeit hinweg gekommen. Danach probierte ich es mit Mädchen. Ich hatte zwei Freundinnen und jeweils eine ernsthafte, gute Beziehung zu ihnen. Es war ein Weg, den ich rückblickend wegen des gesellschaftlichen Drucks gegangen bin. Sehr viele Schwule gehen diesen Weg, haben eine Frau, Kinder, Familie. Aber letztlich ist es nicht das, was sie wollen, und es schadet allen Beteiligten. Als ich mit meiner zweiten Freundin vor der Entscheidung stand, zu heiraten oder nicht, habe ich mich entschieden, nicht weiter in der Lüge zu leben. Ich war damals 25 Jahre alt.

Es dauerte weitere fünf Jahre, bis ich zum ersten Mal einen schwulen Partner hatte, da war ich 30, und ich musste dazu erst ins Ausland reisen, in die USA. Ich hatte dort ein Stipendium, und dort hatte ich auch meine erste schwule Beziehung. Und erst seit damals führe ich ein durchschnittliches schwules Leben.

"Die Mehrheit versteht uns nicht"

Kurz darauf habe ich es auch meinen Eltern gesagt. Ich habe von ihnen immer sehr viel Liebe erfahren, und deshalb wusste ich, dass mich wahrscheinlich nichts Schlimmes erwarten würde. Von Seiten meines Vaters habe ich tatsächlich niemals auch nur den kleinsten Vorbehalt gespürt. Meine Mutter hatte anfangs teilweise Sorgen, ich denke wegen des gesellschaftlichen Drucks, aber irgendwann legte sich das.

Der Fotograf Zsolt ReviczkyBild: privat

Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis habe ich niemals schlechte Erfahrungen gemacht. Aber ich sage auch nicht jedem, dass ich schwul bin. Zur Wahrheit gehört auch, dass mein Freund und ich beispielsweise nur sehr, sehr selten Hand in Hand durch die Straßen von Budapest gehen. Leider begreift die Mehrheitsgesellschaft nicht, wie schmerzlich und schwer es ist, wenn man ständig darüber nachdenkt, wie man sich mit seinem Liebsten in der Öffentlichkeit verhält, während es für heterosexuelle Paare völlig normal ist, sich an der Hand zu halten.

Minderheiten gegen Minderheiten

Leider nehmen solche Gedanken in der Atmosphäre ständiger homophober Propaganda des Orban-Regimes zu. Inzwischen hat das eine Stufe erreicht, wo es heißt, dass, wenn der Westen in Ungarn die Oberhand gewinne, Kinder dazu gezwungen werden würden, sich Operationen zu einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Ich denke, dass ein bestimmter Teil der ungarischen Gesellschaft diese absurde Propaganda sogar glaubt. Für mich ist das unfassbar.

"Anderssein ist ekelhaft": Homophobe Demonstranten protestieren gegen den Budapest Pride am 6.07.2019

Leider muss ich sagen, dass es auch innerhalb von Minderheiten wie der unseren zu Situationen kommt, in denen sich zeigt, dass wir aus Hetze gegen uns nicht unbedingt lernen. Ich erinnere mich an einen Abend mit Freunden in einem Urlaub vor etwa zehn Jahren, die meisten Intellektuelle, die Hälfte Schwule. Wir aßen, tranken, unterhielten uns, und plötzlich kam die Rede auf die Problematik der Roma in Ungarn. Es hat mich bestürzt zu sehen, dass alle meine schwulen Freunde die ganzen Stereotype über Roma wiederholten, nämlich, dass sie nicht arbeiten wollten, nur Kinder gebären würden, um Sozialhilfe zu kassieren, dass sie stehlen und so weiter. Ich finde es traurig, wenn wir als Minderheit gefühllos gegenüber anderen Minderheiten sind.

Wohin führt das öffentliche Klima?

Insgesamt ist die Lage in Ungarn für uns inzwischen sehr bedrückend. Ich liebe mein Land, Ungarn ist ein fantastisches Land mit einer wunderbaren Kultur. Aber es ist traurig, dass eine Minderheit im Jahr 2022 in einer solchen Lage ist wie wir, dass ein derart hasserfüllter Diskurs gegen uns läuft. Ich habe zwar eine glückliche Beziehung, eine Familie, die mich liebt, und einen guten Freundeskreis, der mich stützt und mir Kraft gibt. Wenn aber mein Freund nicht bisher aus beruflichen Gründen bleiben wollen würde, wäre ich längst ins Ausland gezogen. Denn der permanente homophobe Diskurs von oben beeinträchtigt mich sehr in meinem Alltag und meinem Lebensgefühl.

"Ihr tötet die, die man schützen muss": Demonstration gegen das Gesetz gegen Homo-Propaganda am 14.06.2021Bild: Reviczky Zsolt

Es ist traurig, dass eine sich als national bezeichnende Regierung so viele wertvolle ungarische Menschen aus dem Land treibt, weil sie es hier einfach nicht mehr aushalten. Wohin dieses öffentliche Klima noch führt, werden wir sehen. Es ist in Ungarn schon mehrmals in der Geschichte vorgekommen, dass solche Zeiten der Hetze zu einer sehr schlechten Entwicklung geführt haben. Wenn ich das kommen sehe, werde ich trotz aller Heimatliebe sicherlich aus Ungarn weggehen.

Protokoll: Keno Verseck

Zsolt Reviczky, 54, hat Ingenieurswissenschaften studiert, arbeitet aber seit über zwei Jahrzehnten als Fotograf. Nach einer Fotografie-Ausbildung 1999 fing er zunächst beim Budapester Boulevardblatt Mai Nap an. Ab 2005 arbeitete er bei der linksliberalen Tageszeitung Nepszabadsag, die 2016 von einem Orban-Vertrauten aufgekauft und kurz darauf geschlossen wurde. Seit 2017 ist Reviczky als Fotograf beim unabhängigen Wochenblatt HVG tätig. Alle Bilder in diesem Artikel und in der Galerie stammen von ihm.