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Politik

"Ich dachte, meine Tochter sei ein Monster"

9. Oktober 2017

Die DW zeigt Porträts junger homosexueller Männer und Frauen aus Russland - einem Land, in dem Homophobie weit verbreitet ist. Sie haben unserem Moskau-Korrespondenten Juri Rescheto ihr Schicksal anvertraut.

Symbolbild Kriminalisierung Homosexualität Russland
Bild: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Tabu: Schwulsein in Russland

03:52

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"Ihre Herzen sollen verbrannt und vergraben werden": Dieser Vorschlag kam vom prominenten russischen Fernsehmoderator Dmitri Kisjelow zur besten Sendezeit im Ersten Russischen Fernsehen. Er galt Menschen "mit einer nicht-traditionellen sexuellen Orientierung", so nennt man in Russland Schwule und Lesben. Kisjelow ist die Lichtgestalt der russischen Medienpropaganda. Er lügt, hetzt, beleidigt und wird dafür verehrt. Für seinen Vorschlag der Herzverbrennung bekam er Applaus im Studio. Die Hetzjagd auf Schwule begann. Das war im Jahr 2012.                   

Ein Jahr später wurde im südrussischen Wolgograd ein 20-jähriger Mann ermordet. Weil er schwul war. Sein Kopf wurde mit einem 20 Kilogramm schweren Stein zertrümmert. Aus Hass.

Kurz darauf verabschiedete die Duma, das russische Parlament, das sogenannte Anti-Schwulen-Gesetz. Wer sich in Anwesenheit von Minderjährigen positiv über Homosexuelle äußerte, machte sich von heute auf morgen strafbar. Der Staat wollte damit die sogenannte "Propaganda der nicht-traditionellen sexuellen Orientierung" bekämpfen.

Kein Schutz für Homosexuelle

Im Umkehrschluss hieß es aber: Jeder, der die schwulen Opfer der Gewalt öffentlich verteidigte, konnte sich strafbar machen. Russische Homosexuelle konnten nicht mehr damit rechnen, dass der Staat sie gegen Einschüchterungen, Erniedrigungen und Aggressionen schützt. Und das, obwohl homosexuelle Beziehungen in Russland offiziell erlaubt sind.

Fünf Jahre sind vergangen. Homophobie, die in Russland quasi per Gesetz erlaubt wurde, ist weit verbreitet. Heute kann man mit Schwulenhass nicht nur Geld in Talkshows verdienen, sondern offenbar auch bei Wählern punkten. Zumindest bei ihrem ganz bestimmten orthodoxen Teil. Wer in Russland öffentlich gegen Schwule hetzt, wähnt sich nicht nur als Verteidiger der sogenannten traditionellen Werte, sondern als Unterstützter der moralischen Säulen der ganzen russischen Gesellschaft, die von außen, aus dem "faulen Westen", angegriffen wird. Nicht mehr und nicht weniger. 

Eltern verjagen ihre Kinder 

Das Resultat: Der Duma-Abgeordnete der Russischen Föderation Witali Milonow darf den Bürger der Russischen Föderation Boris Konakow in aller Öffentlichkeit beleidigen. Ungestraft. Herr Milonow nennt Herrn Konakow eine "AIDS-verseuchte Schwuchtel" - weil der junge Mann gegen die Verfolgung von Schwulen in der Teilrepublik Tschetschenien protestierte. Er kettete sich mit Handschellen für eine Stunde an das Gelände einer Brücke in Sankt Petersburg. Einer Brücke, die den Namen des Vaters des Tschetschenien-Führers Kadyrow trägt. 

Das Resultat: Die Mutter einer Jugendlichen namens Natalia gesteht, dass sie bereit sei, "auf Knien zu kriechen und Gott zu bitten, ihre Tochter normal wie alle anderen zu machen". Dann gesteht sie, dass sie sich vor ihrer eigenen Tochter "wie vor einem Monster" ekelte, als Natalia ihr erzählte, dass sie Mädels statt Jungs liebt. Am Ende aber konnte sich die Mutter doch überwinden. Ein Glück für Natalia, das viele andere Jugendliche nicht haben. Andere Töchter werden von den eigenen Vätern geschlagen. Andere Eltern verjagen ihre homosexuellen Kinder. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren Fälle von "korrigierenden Vergewaltigungen". Dabei werden lesbische Töchter in einen Raum mit einem Vergewaltiger gesperrt.

Die Flucht als letzter Ausweg

Das Resultat: Der Millionär German Sterligow eröffnet in ganz Russland Brotläden mit dem Eingangsschild "Schwuchteln Zutritt verboten". Niemanden interessiert die widerliche Äußerung, die an die Nazi-Schilder "Juden Zutritt verboten" erinnert. Strafanzeige? Fehlanzeige! Russische Medien empören sich lieber über die extrem hohen Brotpreise. Der Geschäftsmann Sterligow, der einst Präsidentschaftsambitionen hatte, propagiert den gleichen Lebensstil wie der Abgeordnete Milonow: Kinder, Küche, Kirche. Dabei geben sich seine eigenen Mitarbeiter durchaus tolerant, stellte der junge, offen schwule Blogger Kyrill Egor fest. Egor nahm seine Kamera und ging in einen der Sterligow-Läden rein. Dorthin, wo ihm der Zutritt verboten war. Eigentlich.

Das Resultat schließlich: Niemand fragt nach dem Schicksal der mehr als hundert schwulen Männer, die in einem geheimen Gefängnis in Tschetschenien gedemütigt, missbraucht, geschlagen wurden. Die regierungskritische Zeitung Novaja Gazeta berichtet monatelang darüber. Als beinahe einziges Medium in Russland. Im Ausland dagegen breitet sich der Skandal aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in Anwesenheit von Russlands Präsident Wladimir Putin vor laufenden Kameras das Problem bei ihrem Besuch im russischen Sotschi an. Zu dem Zeitpunkt ist "Viktor", ein junger Schwuler aus dem tschetschenischen Städtchen Argun, bereits aus seiner Heimat Tschetschenien geflohen.

Sie alle, Boris, Natalia, Kyrill und der tschetschenische Schwule, den wir aus Sicherheitsgründen "Viktor" nennen, erzählen mir ihre Geschichten in Moskau und Sankt Petersburg. Geschichten voller Schmerz, Verzweiflung, aber auch Mut. Geschichten über ihre homosexuelle Liebe, die in diesem Land für Tausende Männer und Frauen schutzlos ist.    

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