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Politik

"Wir sollten den Honeymoon-Effekt nutzen"

10. April 2019

Menschen mit Migrationshintergrund haben einer neuen Studie zufolge hohes Vertrauen in die Politik, trauen sich selbst aber wenig Mitsprache zu. Wie man das ändern kann, erzählt Politologe Jan Schneider im DW-Interview.

Deutschland Angela Merkel macht Selfie auf Fest in Stralsund
Politische Selbstwirksamkeit ist mehr als ein Selfie mit der KanzlerinBild: Getty Images/S. Gallup

Rund 20 Millionen Menschen, also knapp ein Viertel der Einwohner Deutschlands, haben einen Migrationshintergrund, das heißt, sie selbst oder mindestens ein Elternteil besitzen nicht durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Gut die Hälfte von ihnen, insgesamt knapp 10 Millionen, besitzen einen deutschen Pass und dürfen somit an allen Wahlen teilnehmen. Am politischen Diskurs hingegen dürfen und sollten sich möglichst alle Menschen beteiligen, die hier leben.

Wie es um diese Partizipation der Menschen in Deutschland steht, hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) untersucht. Das unabhängige Gremium erstellt regelmäßig ein Integrationsbarometer - erstmals wurden darin nun auch Erkenntnisse zur "politischen Selbstwirksamkeit" erhoben. Dabei geht es im Kern um die Selbsteinschätzung, was Menschen sich politisch zutrauen: Verstehen sie die politischen Prozesse? Glauben sie, dass Politiker ihre Interessen vertreten? Sehen sie sich selbst in der Lage, sich einzubringen? Bei diesen Aspekten schätzen Menschen mit Migrationshintergrund sich oftmals schlechter ein als diejenigen ohne. Über die detaillierteren Ergebnisse der Studie hat die DW mit Jan Schneider gesprochen, dem Leiter des SVR-Forschungsbereichs.

SVR-Forschungschef Jan SchneiderBild: SVR/M. Setzpfandt

Deutsche Welle: Welche Erkenntnisse hätten Sie vorher so nicht erwartet?

Jan Schneider: Uns hat überrascht, wie deutlich wir Unterschiede feststellen können in der Wahrnehmung der politischen Selbstwirksamkeit zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Wir haben die Menschen gefragt, wie gut sie politische Inhalte verstehen und wie gut sie an Diskussionen aktiv teilnehmen können. Dabei sehen wir interessante Unterschiede. Zum Beispiel eine wesentlich geringere politische Selbstwirksamkeit bei den Türkeistämmigen im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen.

Woran liegt das?

Ein übergreifender Faktor ist das Bildungsniveau: Wer Abitur hat und vielleicht studiert hat, hat eine viel höhere Wahrnehmung ihrer oder seiner eigenen politischen Selbstwirksamkeit als Menschen, die zum Beispiel nur einen Hauptschulabschluss oder gar keinen haben. Das erklärt beispielsweise im Hinblick auf diese Gruppe der Türkeistämmigen eine Menge der Unterschiede.

... weil unter den Türkeistämmigen in Deutschland immer noch viele einstige Gastarbeiter sind.

Genau, und auch in der zweiten Generation haben wir eine geringere Bildungsbeteiligung. Wenn man diesen statistischen Befund einspeist, erklärt das Bildungsniveau fast komplett die Unterschiede.

Eine Gruppe, bei der unabhängig von der Herkunft die politische Selbstwirksamkeit geringer ist, sind Frauen. Woran liegt das?

Es gibt im Bereich der Politik sogenannte geschlechterspezifische Zugangsbarrieren. Das können unterschiedliche kulturelle Praktiken sein oder stereotype Geschlechtervorstellungen wie die, dass Politik sozusagen "Männersache" ist. Es kann sich auch um klare Diskriminierung handeln. Frauen hatten in der politischen Partizipation schon immer strukturelle Nachteile. Das zeigt sich auch über die meisten Herkunftsgruppen hinweg.

Sie haben in der Studie auch die Haltung der Menschen darüber abgefragt, wie nah Politiker an den Belangen der einfachen Leute sind. Hier zeichnen Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel ein positiveres Bild als autochthone Deutsche, besonders diejenigen, die erst seit kurzem hier leben. Woran liegt das?

Das lässt sich dadurch erklären, dass unter den Zuwanderern der letzten zehn Jahre viele aus Staaten kommen, in denen es in puncto Demokratie und Partizipation generell nicht so gut aussieht. Und die glauben daran, dass es hier besser ist. Da gibt es einen "Honeymoon-Effekt", so eine Art Bonus oder Vertrauensvorschuss in das politische System und seine Akteure. Gleichzeitig ist es natürlich auch eine wichtige Botschaft an die Politik, zu sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich mit wachsender Aufenthaltsdauer Skepsis breitmacht. Es könnte wichtig sein, gerade bei der Gruppe der Geflüchteten der letzten Jahre verstärkt anzusetzen und diesen Honeymoon-Effekt auszunutzen. 

Bislang fühlen sich, das zeigt Ihre Studie, Menschen mit Migrationshintergrund jedoch weniger befähigt, sich politisch einzubringen. Welche Akteure können daran etwas ändern, und welche Maßnahmen sollten sie ergreifen?

Eine unserer wichtigsten Empfehlungen ist, nicht nur eine klassische Vermittlung von politischem Wissen über Publikationen und Veranstaltungen zu betreiben, sondern politische Prozesse erfahrbar zu machen und vielleicht auch selbst mitgestalten zu können. Man sollte niedrigschwellige Momente, etwa auf kommunaler Ebene nutzen.

...etwa in Form direkter Bürgerbeteiligungen?

Dort kann man jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern, zeigen, dass sie durch aktives Mitgestalten wirken können und dass sich politisches Interesse und politisches Engagement irgendwie auszahlt und Spaß macht.

Was ist mit den Bürgerinnen und Bürgern, die weder am Schul- noch am Integrationsunterricht beteiligt sind?

Es gibt im Bereich der Bundesregierung verschiedene Programme zur Erwachsenenbildung. Aber offensichtlich sind diese noch nicht erfolgreich genug. Wenn die Institution Schule es nicht überall schafft, sollte es ergänzend auch Teilhabe- und politische Aktivierungsangebote geben. Wenn Menschen auch außerhalb der Schule die Erfahrung machen können, dass sie durch ihr Mitwirken etwas verändern können, dann kann auch das Interesse und das Vertrauen in eine repräsentative Demokratie wieder steigen.

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