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Politik

Hongkong: "Eine Art End Game"

Helena Kaschel
15. November 2019

Das Chaos auf Hongkongs Straßen hat die Universitäten der Sonderverwaltungszone erreicht. Politologe Stephan Ortmann, selbst an einer Hongkonger Hochschule tätig, glaubt nicht an eine friedliche Lösung des Konflikts.

Hongkong Protest gegen China & Auslieferungsgesetz
Mit Pfeil und Bogen bewaffnete Demonstranten üben nahe der Polytechnischen Universität das Weglaufen vor der PolizeiBild: Reuters/T. Peter

DW: In dieser Woche haben sich die Proteste auf die Universitäten verlagert, an mehreren Hochschulen gab es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Wie sieht die Situation an der City University aus, an der Sie unterrichten?

Stephan Ortmann: Da gab es auch Auseinandersetzungen, und zwar am Montagvormittag. Es gibt eine von Protestierenden entwickelte App, auf der man sehen kann, was gerade passiert, wo Polizei ist. Morgens habe ich gesehen, dass da "TG" stand. Ich habe vermutet, dass das Tränengas ist. Später habe ich von meinem Freund erfahren, dass mehrmals vormittags Tränengas eingesetzt wurde. Die Auseinandersetzung fand teilweise direkt auf einer Brücke zwischen den Studentenwohnheimen und den Uni-Gebäuden statt. Deshalb hat es mich besonders schockiert, dass die Uni keine Meldung oder Warnung rausgeschickt hat. Später gab es dann Warnungen, man solle wegbleiben, das habe ich auch getan. Die ganze Woche fand kein Unterricht statt und das Semester wurde jetzt auch beendet [Anm. d. Red.: zwei Wochen vor Semesterschluss]. An anderen Unis soll wohl online weiter Unterricht stattfinden.

Gestern habe ich mir angeschaut, wie es an City University aussieht. Die Straße war mit Ziegeln besetzt, Busse standen quer, die Uni selbst wurde mit Graffiti beschmiert. Eine der Mensen wurde zerstört und ein Buchladen. Die Demonstranten haben sich jetzt im Studentenwohnheim verbarrikadiert. Der Rest des Campus ist ohne Probleme zu erreichen, da ist nichts los.

Studierende sind nicht erst seit dieser Woche an den Protesten beteiligt. Dennoch waren die Universitäten bisher nicht Schauplatz von Ausschreitungen. Das hat sich nach dem Tod des 22-jährigen Studenten Alex Chow geändert. Welche Gründe gibt es aus Ihrer Sicht noch für die Besetzung der Hochschulen?

Studierende sammelten am Donnerstag in der besetzten Polytechnischen Universität LebensmittelvorräteBild: picture-alliance/Zumapress/O. Haynes

Ich glaube, der Grund ist eigentlich, dass die Regierung stärker durchgreifen wollte. Die Polizei greift ja schon seit längerem schneller durch, dadurch eskalieren die Proteste oft schneller. Für Montag war ein Generalstreik geplant. Hongkong ist aber gewerkschaftlich so schwach aufgebaut, dass ein Generalstreik nicht zustande kommt, wenn man ihn nicht erzwingt. Deswegen haben Protestierende, vor allem Studenten, morgens früh auf Hauptautobahnen und Straßen Barrieren aufgebaut und versucht, Züge zum Halten zu bringen. Dagegen ist die Polizei vorgegangen.

Berichten zufolge sind die betroffenen Hochschulen zu regelrechten Kampfgebieten geworden. Studierende sollen Waffen und Brandsätze horten und die Polizei mit Pfeilen beschossen haben. Diese setzte wiederum Tränengas und Gummigeschosse ein. Einige Studierende sind wieder auf das chinesische Festland zurückgekehrt. Eine dänische Universität hat ihren Auslandsstudenten ebenfalls die Ausreise empfohlen. Ist der studentische Protest zum Großteil gewaltsam? Und von welcher Seite geht die Eskalation aus.

Polytechnische Universität: Demonstranten warten mit Brandflaschen auf das Eintreffen der PolizeiBild: picture-alliance/Zumapress/O. Haynes

Klar ist da eine gegenseitige Eskalation vorhanden. Ich würde sagen, es ist eine Art Vorbereitung auf einen Krieg oder derartiges - was nicht heißt, dass die Demonstranten einen Angriff planen. Bis jetzt ist die Regierung auf den wichtigsten Grund des ganzen Protestes überhaupt nicht eingegangen: Das Gefühl unfairen Verhaltens, dass es kein Verständnis dafür gibt, dass Leute hier für ihre Freiheit kämpfen. Ich glaube, es ist für die Demonstranten eine Art End Game. Eigentlich sind sie ziemlich hoffnungslos. Was sie jetzt machen, ist zu sagen: Wir müssen bis zum letzten Ding kämpfen. So sind sie aufgestellt. Deswegen sammeln sie ein Arsenal an, um den Kampf durchzuführen, der von den radikalen Protestierenden geführt wird. Die Mehrheit gehört aber wohl nicht zum gewalttätigen Teil. Es gibt viele Studenten, die das unterstützen, aber nicht vorhaben, irgendwie zu kämpfen. Es gibt nur eine kleine Anzahl von Leuten, die sich praktisch militärisch schulen. 

Wie positionieren sich die Universitäten in diesem Kampf?

Die Regierung wollte schon lange, dass die Universitäten stärker gegen die Protestierenden vorgehen, während die Protestierenden wollen, dass sie die Studenten verteidigen. Unser Präsident ist mehr oder weniger untergetaucht. Soweit ich das verstehe, ist er eigentlich für die Regierung, aber er möchte sich nicht in diese Richtung äußern. Er ist Taiwanese, aber mit stark pro-chinesischer Richtung, und deswegen scheint er irgendwie verschwunden zu sein. Wir hatten dieses Semester auch nicht die Erlaubnis, irgendwelche politischen Ereignisse zu organisieren. Die Uni-Verwaltung hat bei uns nicht versucht, irgendwie vermittelnd einzuwirken, sie hat sich einfach rausgehalten. Das ist meiner Meinung nach nicht das, was funktioniert. Man müsste hier tatsächlich versuchen, Diskurse zu schaffen und in beide Richtungen vorzugehen. Aber ich bin mit meiner westlichen Herkunft im Prinzip nur ein Außenseiter.

Bis auf die Rücknahme des umstrittenen Auslieferungsgesetzes hat die Hongkonger Regierung den Demonstranten keine Zugeständnisse gemacht. Die Protestbewegung fordert unter anderem Straffreiheit für die Tausenden bisher Festgenommenen und die Bildung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung von Polizeigewalt. Ist aus Ihrer Sicht noch ein Kompromiss zwischen beiden Seiten möglich?

Die einfache Antwort ist: Nein. Der erste Schritt in die richtige Richtung wäre, dass Carrie Lam nicht mehr Regierungschefin ist. Und dann muss der nächste Regierungschef mehr auf die Hongkonger eingehen und nicht so tun, als ob er nicht wüsste, warum sie gewalttätig sind, warum der Ärger da ist, und tatsächlich öffentlich stärker für Hongkong eintreten gegenüber China. Eigentlich fordert aber kaum noch jemand, dass Lam zurücktritt, weil sie glauben, es bringe sowieso nichts, egal, wer da kommt. Meiner Meinung nach hätte die Schaffung einer unabhängigen Kommission längst die Spannung ein wenig rausgenommen. Die Regierung hofft, dass die Demonstranten langsam aufgeben, aber es gibt genügend Studenten, die bereit sind, bis zum Ende zu kämpfen. Deswegen glaub ich, dass es eher eine Niederschlagung wird geben müssen, wenn man das gewaltsam beenden möchte.

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Für wie wahrscheinlich halten Sie eine militärische Intervention Chinas?

Die Wahrscheinlichkeit ist relativ gering, denn sonst hätten sie es schon längst gemacht. Außerdem sind die Kosten, die damit verbunden sind, enorm hoch. Das würde nämlich mehr oder weniger sofort zum Ende der Sonderwirtschaftszone führen, zumindest auf Seiten der USA. Es gibt ja sowieso schon eine Drohung, das zu machen. 

Das heißt, da besteht eine Menge Druck. China braucht Hongkong wirtschaftlich gesehen, außerdem sind viele Investitionen im Festland durch einen Trick, dass man Hongkong als Ausland deklariert, eigentlich durch Hongkong getätigt. Niemand weiß, was es für Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft hat, wenn Hongkongs Wirtschaft plötzlich in eine Krise rutscht. Deswegen glaube ich, dass sie da vorsichtig sein werden. Wenn sie eingreifen, dann indirekt, indem sie etwa der Polizei Hilfen geben.

Stephan Ortmann ist Politikwissenschaftler am Department of Asian and International Studies der City University Hong Kong und hat in der Vergangenheit selbst an Demonstrationen in der chinesischen Sonderverwaltungszone teilgenommen. 

Das Gespräch führte Helena Kaschel.

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