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Politik

Hongkong - "hasserfüllte Gesellschaft"

Dang Yuan | William Yang
13. November 2019

Die ausufernde Gewalt spaltet die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong. Politiker und Beobachter fürchten, dass der Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt nicht mehr durchbrochen werden kann.

Proteste und Ausschreitungen in  Hongkong
Demonstrant warf Brandflasche auf einen stehenden Zug in der U-Bahn-Station "University" am 13.11.2019 Bild: picture-alliance/dpa/Kin Cheung

"Ich bin sprachlos. Die junge Generation hat Wut im Bauch", sagt Claudia Mo Man-ching, "für sie ist Rache der einzige Ausweg". Mo, 62 Jahre alt, hat vor der Rückgabe Hongkongs an China 1997 politische Talkshows im Lokalfernsehen moderiert. Später wurde sie Honorardozentin an der Chinese University Hong Kong (CUHK). Jetzt sitzt sie für die chinakritische Partei "Hong Kong First" im Stadtparlament (Legco) auf der Oppositionsbank. Bis Oktober war sie Sprecherin von "Democracy Camp Meetings", einer inoffiziellen Parlamentariergruppe der oppositionellen demokratischen Parteien.

Im Interview mit der Deutschen Welle spricht Mo über ihre Angst, dass ihre Heimatstadt im Chaos versinkt. "Das Motto der Massenproteste hat sich dramatisch gewandelt. Ganz am Anfang hieß es noch 'Hong Kong, add oil", eine Art 'Hongkong, reiße dich zusammen'. Später sprach man dann von der 'Befreiung Hongkongs'. Und in jüngster Zeit: 'Hongkonger, rächt euch!'. Das ist beängstigend. Falls es der Verwaltung um Carrie Lam nicht gelingen sollte, den Unmut zu besänftigen, wird Hongkong in einen blutigen Krieg gezogen."

Legco-Abgeordnete Claudia Mo Man-chingBild: DW/W. Yang

Mehr politische Freiheit für Hongkong

Seit fünf Monaten fordern Menschen in Hongkong politische Reformen. Anlass war ein kontroverses Gesetzesvorhaben vom Februar, das die Auslieferung von Tatverdächtigen an das Festland ermöglichen sollte. Die Menschen der Sonderverwaltungszone befürchteten keinen fairen Prozess in China zu bekommen und gingen deswegen auf die Straße. Inzwischen wurde das Gesetz nach friedlichen Massenprotesten mit bis zu zwei Millionen Teilnehmern zurückgezogen. Hongkong hat 7,5 Millionen Bewohner.

Doch die Demonstranten fordern inzwischen mehr. Sie wollen echte Demokratie und erwarten von der Zentralregierung in Peking mehr politische Freiheiten. Im Kern geht es um allgemeine Wahlen. Der Verwaltungschef soll direkt vom Volk gewählt werden und nicht wie bisher durch eine chinafreundliche Kommission. Sämtliche Sitze im 70-köpfigen Parlament sollen ebenfalls direkt gewählt werden. Dadurch, dass aktuell 35 Sitze von gesellschaftsrelevanten Gruppen berufen wurden, haben im Legco chinafreundliche Kräfte die Mehrheit.

Spirale der Gewalt

Auf die Forderungen ist die Lokalregierung bisher nicht eingegangen. Auch die Zentralregierung in Peking schaltet auf stumm und droht mit dem Einsatz der Volksbefreiungsarmee.

Die Aktionen der Demonstranten werden immer radikaler. Zunächst behinderten sie die Unterseetunnel zwischen der Hongkong-Insel und dem Stadtteil Kowloon auf dem Festland und störten den Betrieb des öffentlichen Verkehrs. Der Flughafen, ein internationales Drehkreuz in Asien, musste deswegen zeitweise den Betrieb einstellen. Später warfen sie Eier und Farbbeutel auf das chinesische Staatswappen am Pekinger Verbindungsbüro und stürzten die Nationalflagge ins Meer. Jetzt werden Straßensperren errichtet. Es fliegen Molotowcocktails.

Am Montag (13.11.) schoss ein Polizist (l.) auf einen unbewaffneten maskierten Demonstranten (m.) in den BauchBild: Reuters/Cupid Producer

Jüngste Eskalation

Am Montag wurde offenbar ein Passant, der die Demonstranten an ihre chinesischen Wurzeln erinnerte, vor laufender Handykamera mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet. Er musste mit schweren Verbrennungen ins Krankhaus eingeliefert werden.

Schon letzte Woche kam eine Person ums Leben, offenbar ohne Fremdverschulden. Allerdings stand die Polizei in der Kritik, die Rettungsarbeiten vorsätzlich behindert zu haben.

Auch die Polizei greift zu immer härteren Maßnahmen. Pfefferspray und Tränengas gehören inzwischen zum Standardrepertoire. Lokalmedien berichten von etwa 6.000 verschossenen Tränengasgranaten in den vergangen fünf Monaten. Eingesetzt wurden sie in belebten Einkaufsstraßen, engen Wohnvierteln und auf den Schulhöfen - unverhältnismäßig, so Kritiker.

Am Montag schoss ein Polizist einem unbewaffneten Mann in den Bauch, vermutlich weil er in Panik geriet und befürchtete, dass ein maskierter Demonstrant es auf seine Dienstwaffe abgesehen haben könnte.

In dieser unübersichtlichen Gemengelage ist es oft schwer zu beurteilen, wer für die Eskalation der Gewalt verantwortlich ist. Die Abgeordnete Mo sagt dazu: "Es sieht nämlich so aus, dass viele junge Menschen in Hongkong dazu bereit sind, für das allgemeine Wahlrecht und die Durchsetzung der politischen Forderungen ihr Leben zu opfern. Und sie betrachten den Protest als die 'letzte Schlacht'."

Brandanschlag auf eine Polizeiwache am 20.10.2019Bild: Reuters/K. Kyung-Hoon

"Hasserfüllte Gesellschaft"

Als Politikerin wirkt Mo ratlos. Sie weiß nicht, wie Hongkong die Spirale der Gewalt durchbrechen kann, auch wenn sie die politischen Ansprüche der Demonstranten unterstützt. Der Campus der Chinese University Hong Kong (CUHK), auf dem sie einst ihre Lehrtätigkeit ausübte, ist seit Anfang der Woche Schauplatz gewalttätiger Zusammenstöße zwischen Ordnungshütern und Demonstranten. Studierende vom Festland und aus Taiwan haben bereits die Flucht in die Heimat angetreten. Im Internet kursieren Aufrufe, am Donnerstag (14.11.) Handel, Arbeit und den Schulbetrieb lahmzulegen. Aus Sicherheitsgründen beschloss das Schulamt, alle Schulen bis Sonntag  (17.11.) zu schließen. 

Für Ivan Choy Chi-jeung, Politologe und Dozent an der CUHK, trägt die Stadtverwaltung die Hauptverantwortung, weil sie immer noch zögere, politische Antworten auf die "chaotischen Zustände" zu liefern. "Die Stadtverwaltung setzt einseitig auf die Polizei, um Ordnung wiederherzustellen. Das spaltet Hongkong", so Choy, "beide Fronten stehen unter enormem Druck. Das Ergebnis: Sie hassen sich noch mehr." Er fürchtet, dass der Hass die Menschen jede Selbstbeherrschung vergessen lässt.

Auch Mo warnt vor weiterer Gewalt. "Ich denke mit jedem neuen Tag, dass es der schlimmste Tag war. Aber der nächste Tag wird doch noch schlimmer. Ich wage keine Prognose, wie das Chaos enden wird."