Tausende Hongkonger gingen erneut auf die Straße, um gegen das neue Auslieferungsgesetz zu demonstrieren. Sie sehen ihre Identität gefährdet und wollen nur eins: Hongkong muss Hongkong bleiben.
Bild: Reuters/A. Perawongmetha
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Hongkong ist erneut im Ausnahmezustand. Zum dritten Mal nach 2003 und 2014 erregen von Peking ausgehende politische Entscheidungen beziehungsweise Initiativen die Gemüter vieler Einwohner der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Sie fürchten um ihre weitgehende Autonomie, die im Grundgesetz ("Basic Law") zum Ende der britischen Kolonialherrschaft 1997 festgeschrieben wurde. Ging es zuerst um ein geplantes und letztlich gescheitertes Sicherheitsgesetz (2003) und um die Vertagung einer demokratischen Wahl des Hongkonger Regierungschefs auf den Sankt-Nimmerleinstag (2014), so treibt diesmal die umstrittene Änderung des Auslieferungsgesetzes die Bürger auf die Straßen.
Nach dem Protestmarsch mit schätzungsweise einer Million Teilnehmern am vergangenen Sonntag versammelten sich am Mittwoch Zehntausende vor dem Parlamentsgebäude, wo der Gesetzentwurf behandelt werden sollte. Die Demonstranten verlangen, dass er zurückgezogen wird. Viele Schulen strichen Klausuren für ihre Schüler, Firmen gaben ihren Mitarbeitern frei. Am Mittwochnachmittag ging die Polizei mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen gegen Demonstranten vor, zumeist Studenten, die sich weigerten, das Gelände vor dem Parlament zu räumen.
Eskalation der Lage
Polizei setzte Tränengas einBild: Reuters/T. Siu
Angesichts des Drucks der Straße wurde die eigentlich für Mittwoch angesetzte weitere Lesung des Gesetzentwurfs vertagt. Von Regierungschefin Carrie Lam verlautete, sie verurteile die (mutmaßlich der von Demonstranten verübten) Gewalt aufs Schärfste und dränge auf die Wiederherstellung der Ordnung so bald wie möglich.
Die Abstimmung über den Gesetzentwurf, der im Gegensatz zur bisherigen Regelung eine Auslieferung von gesuchten Verdächtigen auch an das Festland und an Taiwan ermöglichen würde, wurde von dem chinafreundlichen Vorsitzenden des Legislativrats, Andrew Leung Kwan-yuen, auf den 20. Juni festgesetzt. Die Zustimmung gilt als sicher, denn der prochinesische Teil des nur teilweise frei gewählten Hongkonger Parlaments (Legislativrat oder "Legco") besitzt 43 von 70 Sitzen.
"Sein oder Nichtsein"
Für Fernando Cheung Chiu-hung, Abgeordneter der Hongkonger Labour-Partei, ist das beschleunigte parlamentarische Verfahren zur Verabschiedung des Gesetzes eine "Unverschämtheit". Parlamentsvorsitzender Leung hatte 61 Stunden Redezeiten für die restlichen zwei Lesungen - die erste fand Anfang April statt - und fünf Stunden für Fragen im Parlament vorgesehen.
"Das ist gegen die Geschäftsordnung des Parlaments", sagt Cheung im Interview mit der DW. "Die Proteste richtet sich in erster Linie gegen die Regierung von Chief Executive Carrie Lam, die den Willen der Bürger ignoriert, das Gesetzgebungsverfahren einzustellen." Hongkong befinde sich in einem kritischen Moment von Sein oder Nichtsein, der über seine weitere Existenz als Stadt mit eigenem System und eigener Lebensart entscheide.
Der zeitliche Druck sei nicht begründet, sagt auch der Legco-Abgeordnete Raymond Chan Chi-chuen, der dem demokratischen Lager angehört. "Der Gesetzesentwurf hat keine Eile. In den vergangenen Jahrzehnten haben nicht so viele Auslieferungen stattgefunden, dass jetzt eine Zwei-Wochen-Frist gerechtfertigt wäre", sagt Chan der DW. "Wir können jetzt nur noch auf Zeit spielen", räumt er dennoch ein. Druck auf die Regierung, das Verfahren einzustellen, könne jetzt nur noch von der Straße kommen.
Massenproteste in HongkongBild: Reuters/T. Siu
Pekings Unterstützung
Peking stellt sich hinter die Verwaltungschefin Carrie Lam. Regierungssprecher Geng Shuang bekräftigt, die Zentralregierung unterstütze entschlossen die Änderung des Auslieferungsgesetzes. Sämtliche Schritte entsprächen gesetzlichen Normen.
Von der geplanten Änderung könnten auch ausländische Menschenrechtsaktivisten betroffen sein, wenn sie auf dem Flughafen Hongkongs umsteigen, warnte der renommierte US-Jurist Jerome Cohen in seinem Blog. Das Gesetz würde es Hongkongs Behörden erlauben, von Chinas Justiz verdächtigte Personen auszuliefern.
Gyde Jensen (FDP), Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag, erklärte gegenüber der DW: "Sollte das geänderte Auslieferungsgesetz verabschiedet werden, muss sich die Bundesregierung mit möglichen Auswirkungen auf das bestehende Auslieferungsabkommen zwischen Deutschland und Hongkong befassen."
Hongkong: Die Proteste in Bildern
Tränengas und Gummigeschosse am Perlflussdelta: Die Abstimmung über das umstrittene Auslieferungsgesetz wurde verschoben, die Proteste in Hongkong gehen trotzdem weiter. Eine Chronik der Eskalation in Bildern.
Bild: Getty Images/AFP/A. Wallace
Mit Schirmen gegen Politik und Regen
Die Regenschirme, die viele in die Höhe hielten, waren bereits 2014 das Symbol der Demokratiebewegung. Vor fünf Jahren sollten sie vor Sonne und Tränengas schützen, diesmal erfüllten sie auch ihren ursprünglichen Zweck - Hongkong ist im subtropischen Sommer ergiebigen Regenfällen ausgesetzt.
Bild: Getty Images/AFP/A. Wallace
Die Gegner der Frau Lam
Adressatin der Proteste ist Carrie Lam, die Regierungschefin der Hongkonger Sonderverwaltungszone. Lam fährt einen China-freundlichen Kurs, genau wie die Mehrheit der Abgeordneten im Legislativrat. Sie stehen für die fortschreitende Verschmelzung Hongkongs mit dem restlichen China. Die Demonstranten sind damit nicht einverstanden.
Bild: DW/V. Wong
Gegen den Strom
Jimmy Sham ist einer der Organisatoren der aktuellen Proteste. Zur Kundgebung am Sonntag waren nach Angaben seines Komitees eine Million Menschen gekommen - es wäre die größte politische Veranstaltung seit der Übergabezeremonie 1997. Sham befürchtet, Hongkong werde durch das geplante Auslieferungsgesetz "nutzlos", weil politisch Andersdenkende nicht mehr geschützt werden könnten.
Bild: Reuters/T. Peter
Gerüstete Staatsgewalt
In schwerer Montur war die Hongkonger Polizei aufgezogen. Zehntausende Demonstranten waren auf der Straße und legten immer wieder Hauptverkehrsachsen im Zentrum der Millionenstadt lahm. Am Mittwoch versuchten sie, das Gebäude des Legislativrats zu stürmen, der für das umstrittene Gesetz verantwortlich ist.
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Widerstand unter Tränen
Als Demonstranten sich am Mittwoch einen Zugang durch die Barrikaden bahnten und versuchten, den Legislativrat zu stürmen, reagierten Einsatzkräfte einmal mehr mit Tränengas. Einige Protestierende schützten sich mit eng anliegenden Brillen und feuchten Tüchern.
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Nein zu Auslieferungen
Die Proteste hatten sich an einem geplanten Gesetz entzündet, das die Auslieferung Hongkonger Bürger nach China ermöglichen sollte, ohne deren Rechte ausreichend zu schützen. Inzwischen hat die von pro-chinesischen Parteien dominierte Regierung das Gesetz auf die lange Bank geschoben, die Demonstranten fordern jedoch, die Pläne kategorisch fallen zu lassen.
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Schirme gegen China
Die Proteste haben noch eine zweite, tiefere Ebene: Die Demonstranten stellen sich gegen den voranschreitenden Anschluss der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China - und den damit verbundenen Rückbau der Demokratie. Eigentlich war ihnen unter dem Schlagwort "Ein Land, zwei Systeme" Autonomie bis 2047 zugesagt worden.
Bild: Reuters/T. Peter
Leere Versprechung?
Auch beim Besuch von Chinas Präsident Xi Jinping zum 20. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs demonstrierten Tausende für den Erhalt der Demokratie in Hongkong. Unter Xi wird die von seinem Vor-Vorgänger Deng Xiaoping ausgerufene Losung "Ein Land, zwei Systeme" zunehmend ausgehöhlt. Als Indiz für die Veränderung wurde etwa das Verschwinden von fünf regimekritischen Buchhändlern 2015 gewertet.
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Insel der Meinungsfreiheit
Hongkong ist ein Sonderfall - das war vor einer Woche eindrücklich zu sehen, als Tausende Menschen der Opfer des Tiananmen-Massakers gedachten. In China wird dieses blutige Kapitel der Geschichte in der Öffentlichkeit totgeschwiegen. Am 4. Juni 1989 hatte Chinas Militär eine Demokratiebewegung auf dem Pekinger Tiananmen-Platz blutig niedergeschlagen und laut Schätzungen 1000 Menschen getötet.
Bild: picture-alliance/AP Photo/K. Cheung
Mit Schirm, Charme und Symbolen
Im Herbst 2014 erreichte die sogenannte Regenschirm-Revolution ihren Höhepunkt, bevor die Polizei die friedlichen Proteste auflöste. 87 Tränengaskanister wurden auf die unbewaffnete Menge abgefeuert. Dieses Foto ist einen Monat darauf am selben Ort entstanden, als die Demokratiebewegung für 87 Sekunden ihre Schirme erneut aufspannte.
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Gesicht des Protests
Der damals 18 Jahre alte Student Joshua Wong war einer der Anführer der Demokratiebewegung von 2014. Als Vorbild nennt er die Teilnehmer der Tiananmen-Proteste von 1989 - anders als sie riskierte Wong jedoch 25 Jahre später nicht sein Leben. Seit den Protesten von 2014 musste er Festnahmen, Verhöre und eine sechsmonatige Haftstrafe über sich ergehen lassen.
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1997: Hongkong wechselt den Besitzer
In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1997 lief der Vertrag aus, mit dem das kaiserliche China 1898 die Hafenstadt Hongkong an Großbritannien verpachtet hatte. Schon vorher, seit 1843, hatte die Wirtschaftsmetropole unter britischer Herrschaft gestanden.
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Abschied von der Kronkolonie
Als Vertreter des Königshauses übergab Prinz Charles zusammen mit dem erst seit kurzem amtierenden Premierminister Tony Blair das 1100 Quadratkilometer große Gebiet in einer offiziellen Zeremonie an den damaligen chinesischen Präsidenten Jiang Zemin.
Bild: Getty Images/AFP/D. Martinez
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Erst vor kurzem wurde bekannt, das Deutschland zwei Hongkonger Demokratie-Aktivisten Asyl gewährt hat, da sie befürchten, keinen fairen Prozess wegen ihrer Beteiligung an anti-chinesischen Demonstrationen zu bekommen. Hongkong hat dagegen Protest eingelegt.
Der Fall hat nichts mit dem Auslieferungsgesetz zu tun, zeigt aber, dass die zunehmenden Spannungen zwischen Peking und zumindest großen Teilen der Hongkonger Gesellschaft auch internationales politisches Konfliktpotential haben. Der britische Außenminister Jeremy Hunt forderte, dass Hongkong sein zugesichertes hohes Maß an Autonomie aufrechterhalten müsse, auf welcher sein internationales Ansehen ruhe.