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Politik

House of Commons: Zwangsurlaub im Zorn

Barbara Wesel
10. September 2019

Voller Unmut über den verfügten Zwangsurlaub stimmte das britische Unterhaus erneut gegen Neuwahlen im Oktober. Boris Johnson wiederum will die EU nicht um eine Brexit-Verlängerung bitten. Aus London Barbara Wesel.

Karikatur Boris Johnson
Bild: Céline Rübbelke

Der bittere Streit an diesem letzten Sitzungstag des britischen Parlaments endet mit einem Mummenschanz: Konservative Abgeordnete werfen sich zeremonielle Roben über und ziehen ins benachbarte Oberhaus, um sich von dort in den Zwangsurlaub schicken zu lassen. Die Opposition hingegen bleibt auf ihren Plätzen. Hier und dort sind Schilder zu sehen: "Zum Schweigen gebracht." Was nicht ganz stimmt, denn zwischendurch beginnen Waliser und Schotten plötzlich zu singen: "Schande über euch." Jeder Heimatverein hätte sich gefreut.

Diese "Prorogation" ist eigentlich eine kurze rituelle Unterbrechung des Parlamentsalltags, bevor mit einer Rede der Königin eine neue Legislaturperiode beginnt. Die Pause dauert normalerweise ein paar Tage. Nur dass Premier Boris Johnson sie auf fünf Wochen ausgedehnt hat, um seine Brexit-Strategie ohne parlamentarische Aufsicht durchzuziehen. Und noch immer weiß niemand, was er tatsächlich im Schilde führt.

Zank und Beleidigungen

Bis weit nach Mitternacht kochen die Emotionen hoch. Ein Abgeordneter flappt die Arme wie ein Huhn, weil Boris Johnson und seine Unterstützer die Opposition als "Chicken" beschimpfen, als Feiglinge. Beleidigungen fliegen zwischen den Bänken hin und her, ein schottischer Abgeordneter nennt den Premierminister einen Schurken, ein Tory beschimpft Labour, weil die Partei nicht für Theresa Mays Ausstiegsdeal gestimmt habe. Dabei waren es Tory-Hardliner, die das Abkommen zu Fall brachten.

"Das politische System ist kaputt", der Zwangsurlaub für das Parlament ist "undemokratisch", die sogenannten Fortschrittlichen "fördern den Rechtsextremismus" weil sie den Brexit verzögern - Vorwürfe und Beschimpfungen werden von allen Seiten ausgeschüttet. Und Boris Johnson ist sauer, weil seine letzte Chance für eine vorgezogene Neuwahl dahin ist. Nur die Getreuen seiner eigenen Partei haben dafür gestimmt, die Opposition und die Rebellen haben sich überwiegend enthalten und das Ergebnis ist weit von der notwendigen Zweidrittel-Mehrheit entfernt. Er verliert damit die sechste Abstimmung innerhalb von sechs Tagen.

Brexit-Boris: knallhart und unerschrocken

Bild: AFP/T. Akmen

Johnson lädt seinen Ärger auf Labour-Chef Jeremy Corbyn ab: Jahrelang habe er Neuwahlen verlangt, jetzt wolle er den Bürgern keine Stimme geben. Was Quatsch ist, schließlich sind die letzten Wahlen erst zwei Jahre her. "Er kann sich nicht dauerhaft verstecken", so der Premier, aber die Opposition hat gar nicht diese Absicht. Sie will die Wahlen nur einen Monat später, um einen harten Brexit Ende Oktober zu vermeiden und Boris Johnson keinen Gefallen zu tun.

Der ist nämlich schon seit voriger Woche im Wahlkampfmodus und profiliert sich als Brexit-Boris, knallhart und unerschrocken, um möglichst alle Stimmen für den EU-Ausstieg auf sich zu vereinen. "In der Zeit einer nationalen Krise hält man keine Wahlen ab", sagt dagegen Liberalen-Führerin Jo Swinson. Gleichzeitig macht sie der am Wochenende zurückgetretenen Arbeitsministerin Amber Rudd Komplimente, um sie abzufischen. Die LibDems leben derzeit von Überläufern aus den Reihen der Tories und der Labour Party. Eine unerschrockene Stimme gibt zu Bedenken, dass Neuwahlen das Brexit-Problem vermutlich nicht lösen würden, weil auch das nächste Parlament wieder so gespalten sein könnte wie das jetzige. Der Abgeordnete könnte durchaus Recht haben.

Was tut Boris Johnson jetzt ?

Das Unterhaus ist aus dem Weg geräumt, aber was macht Boris Johnson jetzt? Fühlt er sich von dem neuen Gesetz gegen einen harten Brexit, das am Montag rechtskräftig wurde, überhaupt gebunden? "Ich werde keine Verzögerung des Brexit beantragen", betont der Premier im Unterhaus. Seine Berater suchen nach Schlupflöchern, so heißt es, um das Gesetz zu unterlaufen. Die Gegenseite wiederum hat schon Juristen auf Abruf, um Johnson notfalls vor das Oberste Gericht zu zerren.

Am Morgen war der Premier nach Dublin gefahren, um endlich den irischen Regierungschef zu treffen. Leo Varadkar erinnerte ihn an die Besonderheiten Irlands und dass es ohne Backstop kein Abkommen mit der EU geben könne. Das gilt für die Iren und die übrige EU umso mehr, je stärker das Chaos in London tobt.

Boris Johnson und Irlands Premier Leo Varadkar in DublinBild: Reuters/P. Noble

Boris Johnson dagegen erklärte, er wolle ein solches Abkommen, und es gebe Dutzende Möglichkeiten, um das Problem des Backstop zu lösen - also wie man die irische Grenze offen halten könne. Zuletzt schien die Auslegung von Johnsons Äußerungen darauf hinzudeuten, dass er eine Sonderlösung mit EU-Regeln allein für Nordirland wieder in Betracht ziehen könnte. In Dublin allerdings machte der Premier keinen konkreten Vorschlag.

Keine Ideen, keine Unterhändler, keine Zeit

Varadkar wiederum gab seinem Kollegen ein paar unbequeme Wahrheiten mit auf den Weg. Es gebe keinen sauberen Schnitt mit der EU, denn wenn die Briten raus seien, gingen die Verhandlungen mit Brüssel erst richtig los. Großbritannien kann es sich nicht leisten, ohne Handelsabkommen mit seinen Nachbarn zu leben, die über 40 Prozent aller britischen Exporte aufnehmen. Das ist eine Tatsache, über die die harten Brexiteers in London konsequenterweise nicht reden.

Er werde zum Gipfel in Brüssel gehen und mit den anderen Regierungschefs einen Deal abschließen, betonte Boris Johnson erneut, sowohl in Dublin als auch später im Unterhaus. Nur weiß man doch längst wie das wirklich funktioniert: Die 27 verhandeln nicht mit Boris Johnson. Ein Abkommen muss ungefähr eine Woche vorher fertig auf dem Tisch liegen, damit es beim Gipfel beschlossen werden kann. Und da der britische Regierungschef sein Unterhändlerteam nach Zeitungsberichten auf vier Personen herunter geschrumpft haben soll, ist völlig offen, wer diese schwierigen Gespräche für ihn überhaupt führen soll. Alle Mitarbeiter, die Erfahrung aus der letzten Runde mitbrachten, sind inzwischen versetzt.

Mr. Speaker geht

Früher an diesem ereignisreichen Abend hatte John Bercow noch seinen Rückzug vom Vorsitz des Unterhauses angekündigt. Das ist eigentlich keine Überraschung, denn er hat das Amt längst aufgeben wollen. Aber angesichts der chaotischen Szenen in der Nacht bleibt die Frage, ob er und seine stimmstarke Autorität den Tumult nicht doch vermissen werden. Seine "Orrrderrr"-Rufe waren schließlich weltberühmt. Aber bevor er sich von den Tories absägen lässt, geht Bercow lieber selbst.

John Bercow kündigt seinen Rücktritt anBild: picture-alliance/dpa/House of Commons/J. Taylor

Viele Parteifreunde sind nämlich so wütend auf den Speaker, dem sie Parteilichkeit und Regelverstöße vorwerfen, dass sie bei seiner Abschiedswürdigung verbissen auf ihren Sitzen kleben. Wobei die rechten Konservativen selbst inzwischen so viele Verletzungen des parlamentarischen Komment gesammelt haben, dass man an Steine und Glashäuser denken muss.

Wenn sich also beide Seiten im Parlament nicht einig sind, ob Bercow nun ein hervorragender oder ein pflichtvergessener Speaker war - der Mann mit seiner farbigen Ausdrucksweise und seiner Schwäche für bunte Krawatten war mindestens eine bemerkenswerte Gestalt.

Und er hat sich die Sache mit dem Rücktritt natürlich genau überlegt: Bis Ende Oktober will er noch im Amt bleiben, denn nach der Queens Speech am 14.10. braucht das Haus einen erfahrenen Vorsitzenden, da wird es bewegt zugehen. Und außerdem sorgt er so dafür, dass sein Nachfolger noch von diesem Parlament gewählt wird, in dem die Hardliner in der Minderheit sind. Das ist sozusagen sein Abschiedsgeschenk an das Unterhaus.

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