Hybride Kriegführung am Meeresgrund?
22. November 2024Es ist ein fast schon unscheinbares Kabel, dünner als ein Feuerwehrschlauch. Ausgestattet mit acht Hochleistungs-Glasfaserpaaren, ummantelt von Stahl und einer wasserdichten Schutzschicht: Die Unterwasser-Kommunikationsleitung "Cinia C-Lion 1" verbindet die finnische Hauptstadt Helsinki und die rund 1200 Kilometer entfernte deutsche Hafenstadt Rostock. Sie dient als eine Art Datenautobahn, die Rechenzentren in Nord- und Mitteleuropa miteinander verbindet.
Bei ihrer Verlegung quer durch die Ostsee wurde ein Unterseepflug eingesetzt, der extra eine metertiefe Schneise in den Meeresboden fräste; in der sollte das Kabel besonders geschützt liegen. Und doch wurde es in der Nacht zu Montag vor der Insel Öland beschädigt, genauso wie kurz zuvor eine andere Datenleitung zwischen Schweden und Litauen vor der Küste Gotlands.
Unter Sabotage-Verdacht steht nun die Besatzung eines chinesischen Frachters samt russischem Kapitän. Das Handelsschiff soll die beiden Orte, an denen die Beschädigungen auftraten, jeweils zur fraglichen Zeit passiert haben. Zuvor sei es aus einem russischen Hafen ausgelaufen, berichtete das schwedische Fernsehen SVT unter Berufung auf öffentliche Marine-Daten. Zudem habe es zwischenzeitlich seinen zur Positionsbestimmung nötigen Transponder ausgeschaltet.
Derzeit liegt das Schiff laut der Webseite marinetraffic.com zwischen den Küsten Schwedens und Dänemarks auf hoher See vor Anker. Angaben aus Kopenhagen zufolge wird es von der dänischen Marine streng überwacht.
Nicht der erste Vorfall in der Ostsee
Die Ereignisse erinnerten stark an einen Vorfall, der sich am 7. Oktober 2023 ebenfalls in der Ostsee ereignet habe, erklärt Moritz Brake, Experte für maritime Sicherheit am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Auch damals stand ein chinesisches Handelsschiff im Mittelpunkt: Ein Containerfrachter unter Hongkong-Flagge hatte zwischen Finnland, Estland und Schweden zwei Datenkabel und die Gas-Pipeline "Baltic Connector" mit einem geschleppten Anker beschädigt - angeblich aus Versehen.
An einen Unfall glaubt Brake dabei nicht. "Der Anker ist damals rund 180 Kilometer weit über den Meeresboden mitgeschleppt worden. Das kann auf gar keinen Fall ein Unfall sein, bei dem man einfach nicht bemerkt, dass das passiert." Obendrein sei der Frachter von angeblichen russischen Forschungsschiffen begleitet worden, zudem fand der Vorfall ausgerechnet am Geburtstag von Russlands Staatschef Wladimir Putin statt: "Das sind einfach zu viele Zufälle, die da zusammenkommen", findet Brake.
Westliche Geheimdienste sind schon länger beunruhigt über angebliche russische Forschungsschiffe, die durch die Meere Nordeuropas kreuzen und dabei womöglich westliche Infrastruktur ausspähen.
Im Fall der nun beschädigten Datenkabel ist das womöglich nicht einmal nötig. Wo Unterseekabel weltweit verlegt werden, ist in Open Source-Quellen im Internet frei ersichtlich. Und im Fall des jetzt in der Ostsee zerstörten Kabels C-Lion 1 erklärte die finnische Betreiberfirma Cinia einst in einem (heute nur noch über das Web-Archiv abrufbaren) Imagefilm, man habe sie im Jahr 2015 zu einem Großteil parallel zur Nordstream-Pipeline verlegt, die Europa mit russischem Gas versorgte. Dies habe es Cinia ermöglicht, "auf bereits existierende Sondierungen des Meeresbodens zurückzugreifen, wodurch das Projekt nur ein Jahr nach Beginn der Planungen realisiert werden konnte".
Die Nordstream-Pipeline selbst war im September 2022 Ziel eines Sprengstoffanschlages. Die Hintergründe wurden bis heute nicht restlos aufgeklärt.
Überschaubare Schäden, große Signalwirkung
Der tatsächliche Schaden durch den aktuellen Sabotageakt war begrenzt. "Es kommt sowieso weltweit 100- bis 150-mal vor, dass an irgendeiner Stelle Kabel durch Unfälle beschädigt werden", sagt Moritz Brake gegenüber der DW. "Deshalb ist die Infrastruktur auch so ausgelegt, dass diese Schäden durch andere Kabel aufgefangen werden. Das ist überhaupt kein Problem, das merken die Nutzer erst einmal nicht."
Und doch, erinnert der Sicherheitsexperte, handele es sich um kritische Infrastruktur. Mehr als 90 Prozent des weltweiten Datenverkehrs verläuft über Unterseekabel. "Wenn man bewusst Knotenpunkte ins Ziel nimmt, wenn man wie hier zeigt, dass in kurzer Zeit zwei Kabel beschädigt werden konnten, können das nächste Mal womöglich noch mehr Kabel beschädigt werden. Und dann bekommen wir ganz schnell Probleme."
Generell, so Brake, wirken sich solche Sabotageakte auch in unseren Marktwirtschaften aus. Investoren könnten abgeschreckt werden, ihr Geld in maritime Infrastrukturen anzulegen, wenn deren Schutz nicht gewährleistet werden kann: "In Schweden", berichtet Brake, "mussten etwa mehrere Offshore-Windprojekte durch die Regierung wieder gecancelt werden - aus Verteidigungsaspekten".
Zudem dürfe die Signalwirkung, die von solchen Aktionen ausgehe, nicht unterschätzt werden: "dass sich eine immer engere Zusammenarbeit zwischen China, Russland, aber auch Iran und Nordkorea manifestiert. Hier wird längst global gemeinsam gegen die Interessen des Westens agiert, mit teils drastischen Mitteln, und das merken wir jetzt auch in solchen Fällen." Brake zufolge wird der Westen durch Sabotageakte wie den aktuellen auf die Probe gestellt: "Die Frage ist: Wie reagieren wir in so einem Fall? Die Festsetzung des Schiffes, die NATO-Kanäle, der Informationsaustausch - das ist ganz sicher ein Testen unserer Vorgehensweisen durch die Gegenseite."
Hundertprozentigen Schutz gibt es nicht
Nur: Wie kann man sich besser gegen solche Sabotageakte schützen? Drei Viertel des Erdballs sind von Meeren bedeckt, in ihnen liegen mittlerweile mehr als 500 Datenkabel, die insgesamt so lang sind, dass man mit ihnen 30-mal den Erdball umwickeln könnte. Egal ob Datennetze, Seehandel oder Öl- und Gaspipelines: Dies alles immer und allumfassend zu überwachen und abzusichern, sei unmöglich, betont Moritz Brake. "Und der Gegner muss ja nur an einer Stelle Erfolg haben, während wir ständig das globale Gesamtsystem schützen müssen."
Die westlichen Gesellschaften werden also weiterhin mit derartigen Sabotageakten leben müssen. Dennoch, sagt Brake, seien sie diesen nicht hilflos ausgeliefert. "Wir können zumindest unsere Überwachungsmöglichkeiten stärken, das heißt, in der Lage sein, zu erkennen und auch zu belegen, zu beweisen, sichtbar zu machen, wenn andere Akteure an unserer Infrastruktur Schindluder treiben." Dadurch sei es möglich, Abschreckung zu erzeugen. "So können wir auch zeigen: Wenn ihr uns hier an irgendeiner Stelle bedroht, dann können wir Gegenmaßnahmen einleiten. Vielleicht nicht an der selben Stelle, aber woanders." Der aktuelle Fall, so Brake, zeige ganz eindeutig: "Auf dem Meer gibt es Angreifer, die hoffen, unerkannt bleiben zu können. Und dagegen müssen wir etwas tun."