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Politik

Wie Männer trotz Verbots die Ukraine verlassen

Irina Chevtayeva
19. Juli 2022

In der Ukraine gilt seit Kriegsbeginn ein Ausreiseverbot für Männer - mit einigen Ausnahmen. Diese werden manchmal auch genutzt, um ins Ausland zu gelangen. Doch das ist nicht immer legal.

Grenzübergangsstelle Medyka zur Ukraine
Grenzübergang zwischen der Ukraine und PolenBild: Leon Kügeler/BMEL/photothek/picture alliance

Anton (Name wurde geändert) war in der Ukraine Geschäftsmann. Am 24. Februar fuhr er mit seiner Frau und deren beiden Kindern zur Grenze, um Russlands Angriffskrieg zu entkommen. Für die Fahrt, die normalerweise nur einige Stunden dauert, brauchten sie fast einen ganzen Tag. Während sie unterwegs waren, verbot Präsident Wolodymyr Selenskyj Männern zwischen 18 und 60 Jahren das Land zu verlassen. Somit konnten nur Antons Frau und die Kinder in die EU ausreisen.

Er selbst begann sofort nach Wegen zu suchen, um zu seiner Familie zu kommen. Anton meint, "die Pflicht gegenüber seiner Familie hatte Priorität". Er fuhr in ein Dorf an der Grenze zu Rumänien, um die Theiß zu überqueren. "Wir waren mehrere Männer. Aber Einheimische haben uns verraten und wir wurden gefasst. Wir sind erst gar nicht bis zum Fluss gekommen", sagt Anton und fügt hinzu: "Später habe ich gehört, dass Schleuser meist vier Personen für jeweils 5000 Dollar zum Fluss führen und zeigen, wo man rüber kann." Noch vor Ort wurde Anton zur Armee einberufen, doch dort fand sich für ihn keine geeignete Aufgabe. Also kehrte er nach Hause zurück und schmiedete erneut Fluchtpläne. 

Tipps ins sozialen Netzwerken

Das Ausreiseverbot gilt nicht für alleinerziehende Väter, für solche mit drei oder mehr Kindern sowie für Menschen mit Behinderungen. Vom Verbot ausgenommen sind auch Studierende ausländischer Hochschulen, Fahrer humanitärer Hilfstransporte, sowie Personen mit ständigem Wohnsitz im Ausland.

Männer, für die diese Ausnahmen nicht gelten und trotzdem die Ukraine verlassen wollen, tun dies beispielsweise über die von Russland annektierte Krim. Manche schreiben sich an einer ausländischen Universität ein, andere suchen sich einen Job als freiwilliger Fahrer oder versuchen es eben zu Fuß über die grüne Grenze.

Kontrolle ukrainischer Flüchtlinge an der polnischen GrenzeBild: Abdulhamid Hosbas/AA/picture alliance

Entsprechende Angebote und Tipps gibt es in sozialen Netzwerken. So hat der Instagram-Account "Ausreise für alle" über 14.000 Follower. Dort werden in privaten Chats Infos geteilt, wie man rückwirkend an eine Immatrikulation einer polnischen oder anderen europäischen Universität kommt, die noch vor Kriegsbeginn datiert ist - und das innerhalb von zehn Tagen zum Preis von 980 Euro.

Anton konnte das Land auch verlassen - über eine gemeinnützige Stiftung von Freunden. "Die Stiftung hat eine Ausreiseerlaubnis beantragt. Wir sind alle gefahren und die Autos sind mit humanitärer Hilfe in die Ukraine zurückgekehrt, aber ich bin in der EU geblieben. Männer wie ich werden als Verräter bezeichnet", sagt er.  "Ich habe keinen Angst vor der Front, und hätte ich keine Kinder wäre ich längst dort. Aber wir haben die Kinder nicht bekommen, damit meine Frau allein mit ihnen irgendwie überleben muss", sagt er.

Das Interesse an Ausreisen scheint groß: Über 53.000 Follower hat der Telegram-Kanal "Legaler Umzug ins Ausland" und mehr als 28.000 sein Backup-Kanal "Hilfe an der Grenze". Dort wird für 1500 Dollar die Beschaffung eines Nachweises angeboten, der vom Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen befreit. Ein anderes Angebot sieht vor, getarnt als Fahrer eines Transporters mit Hilfsmitteln das Land zu verlassen. Angeblich kommen so zehn Männer pro Tag ins Ausland, wofür sie 2000 Dollar zahlen.

Auf Telegram finden sich auch Bewertungen derer, die jene Angebote angeblich genutzt haben: "Ich bin als Helfer gefahren, alles ging schneller und einfacher als ich dachte"; "Danke, dass Sie meinem Sohn geholfen haben, er ist jetzt in Italien"; "Ich bin in Bulgarien angekommen, ich bin dankbar dafür." Die DW hat mehrere dieser User angeschrieben, doch nur einer hat geantwortet. Er schrieb, er wolle "nichts riskieren und nichts erzählen".

Statistische Angaben über ukrainische Flüchtlinge

Seit dem 24. Februar sind laut UNO über neun Millionen Ukrainer ins Ausland geflüchtet. Wie viele Männer es sind, wollte die DW vom Grenzdienst der Ukraine wissen, hat aber noch keine Antwort erhalten. Das Innenministerium hatte am 1. März gemeldet, dass etwa 80.000 Männer im wehrfähigen Alter in das Land zurückgekehrt seien, die meisten davon nach dem 24. Februar, "um die Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen".

Die Autoschlangen an der polnisch-ukrainischen Grenze werden nicht kürzerBild: Darek Delmanowicz/dpa/picture alliance

Polen und Deutschland haben die meisten Geflüchteten aufgenommen. Nach Angaben der polnischen Behörden waren es vom 24. Februar bis 7. Juni 3,6 Millionen, darunter 432.000 Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. In Deutschland wurden von Ende Februar bis zum 19. Juni 867.214 Flüchtlinge registriert. Das Bundesinnenministerium hatte im März eine Umfrage durchgeführt. Demnach waren 48 Prozent der Ankommenden Frauen mit Kindern, 14 Prozent waren alleinstehende Frauen, sieben Prozent waren Männer mit Kindern und drei Prozent waren Männer, die alleine ankamen.

Pro und Contra des Ausreiseverbots

Alexander Gumirow, ein Anwalt aus Odessa, hatte im Mai eine Petition gestartet, in der er die Aufhebung des Ausreiseverbots für Männer und die Rekrutierung Freiwilliger forderte. In wenigen Tagen erreichte sie 25.000 Unterschriften und musste daher vom Präsidenten geprüft werden. Wolodymyr Selenskyj reagierte scharf und erklärte, die Petition sollte an die Eltern der Soldaten gerichtet werden, die für die Verteidigung der Ukraine ihr Lebens gelassen hätten.

Alexander Gumirow, Anwalt aus Odessa. kritisiert das Ausreiseverbot für Männer.Bild: Privat

Gumirow hält das Ausreiseverbot nach wie vor für sinnlos: "Wenn jemand seine freie, geliebte Heimat, sein Zuhause und seine Familie verteidigen will, dann braucht man kein Ausreiseverbot. Und wenn jemand seine Heimat nicht verteidigen will, auch dann ist ein solches Verbot unnötig."

Gumirow sagt, zurzeit könnten viele Männer in der Ukraine keine Arbeit finden und würden daher weder ihre Familien ernähren noch Steuern an den Staat zahlen. Zudem führe das Verbot zu Korruption. Als Anwalt bekomme er täglich Anfragen, welche "Schlupflöcher" es gebe, um das Ausreiseverbot zu umgehen. Aber diese seien alle mit Bestechung verbunden, so Gumirow.

Anwalt Dmytro Busanow aus Kiew weist darauf hin, dass die Einschränkung des Rechts auf Ausreise aus der Ukraine laut Verfassung nur gesetzlich geregelt werden könne, was bisher nicht geschehen ist. Daher hält er das jetzige Verbot für rechtswidrig. "Ich bekomme viele Beschwerden, aber die Leute wollen nicht vor Gericht klagen", so Busanow. Er hält es sogar für möglich, dass man deshalb vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen kann.

Verurteilung durch Mitbürger

Verurteilt würden ukrainische Männer, die ins Ausland gegangen sind, oft von den Ehefrauen derer, die jetzt im Krieg sind, sagt eine ukrainische Anwältin, die anonym bleiben möchte. Ihr Mann ist freiwillig an der Front. Die Petition von Alexander Gumirow, die sie grundsätzlich unterstützt, ist ihrer Meinung nach falsch formuliert. "Ihre Botschaft lautet: Lasst uns alle ausreisen und Freiwillige kämpfen lassen. Das ist unfair", sagt sie. Es gebe zu wenige Freiwillige, betont die Anwältin, die sich derzeit mit ihren Kindern in der EU aufhält. Ihr Mann wolle dienen, aber auch seine Kinder sehen. Deswegen fordert sie, Soldaten Kurzurlaube zu gewähren und Auslandsreisen zu erlauben.

Anton ist längst bei seiner Frau und seinen Kindern in einem EU-Land, lernt die Sprache und sucht einen Job. Er schließt nicht aus, nach einem Sieg der Ukraine zurückzukehren. "In Friedenszeiten habe ich immer gesagt, dass die Ukraine einer der besten Orte ist." Er sei ein Patriot, sagt er. "Aber ich möchte, dass der Krieg so schnell wie möglich endet, und ich schicke der Armee Geld. Jetzt sind wir weit weg, aber das bedeutet nicht, dass ich ein Verräter bin."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

 

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