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"Ich denke nicht, dass das Urteil je vollstreckt wird"

Naomi Conrad, Kairo / sp28. Juli 2015

In Libyen ist Saif al-Islam zum Tode verurteilt worden, der Sohn von Ex-Machthaber Muammar Gaddafi. Im DW-Interview bezweifelt der in Ägypten ansässige Menschenrechtsaktivist al-Hawari, dass das Urteil vollstreckt wird.

Saif al-Islam Gaddafi hinter Gittern - Foto: Reuters
Saif al-Islam Gaddafi im Mai 2014 bei einer Anhörung in Sintan, wo er derzeit festgehalten wirdBild: Reuters/Stringer

Trotz aller Bemühungen der Vereinten Nationen um einen Friedensplan kämpfen in Libyen weiterhin zwei Regierungen um die Macht: Die international anerkannte Regierung, mit Sitz in Tobruk, und die selbsternannte, von Islamisten dominierte Führung in der Hauptstadt Tripolis. Das dadurch entstandene Machtvakuum haben diverse bewaffnete Milizen und militante Gruppierungen - einschließlich des "Islamischen Staates" - genutzt, um in vielen Teilen des Landes die Kontrolle zu übernehmen. In Libyen soll es sogar Ausbildungscamps für Dschihadisten geben.

Deutsche Welle: Saif al-Islam, einer der Söhne des ehemaligen libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, ist am Dienstagvormittag von einem Gericht in Tripolis zum Tod verurteilt worden. Wie bewerten Sie das Urteil?

Nassr al-Hawari: Ich denke nicht, dass das Urteil je vollstreckt wird. Saif al-Islam wird von einer der wichtigsten Milizen in Sintan festgehalten. Diese ist ein Gegner der Regierung in Tripolis. Ich glaube nicht, dass es je zu einem Vollzug der Todesstrafe kommt, denn die Regierung hat in diesem Gebiet keinerlei Einfluss. Die Milizen werden ihn definitiv nicht an Tripolis ausliefern. Das wird nicht passieren. Sollten sie ihn ausliefern, dann vielleicht zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Man darf aber bei all diesen Überlegungen nicht vergessen, dass der Angeklagte das Urteil immer noch anfechten kann.

Menschenrechtsorganisationen berichten von mehreren Fällen, in denen Anwälte und Richter bedroht wurden. Kann man vor diesem Hintergrund eigentlich noch von einem funktionierenden Rechtssystem im Land sprechen?

Nein. Das Rechtssystem funktioniert überhaupt nicht mehr. Folter in Gefängnissen ist weit verbreitet. Viele Menschen erhalten keinen Rechtsbeistand und in einer Vielzahl der Fälle erhalten Häftlinge nicht die angemessene medizinische Versorgung. Der frühere Geheimdienstchef Abdullah Senussi hat beispielsweise immer noch keinen Anwalt. Ein weiteres Problem ist, dass viele Rechtsanwälte sich nicht trauen, seinen Fall zu übernehmen. Sie haben Angst davor, selbst in die Schusslinie zu geraten.

Zurück zu Saif al-Islam al-Gaddafi. Welchen Einfluss hat die Familie des langjährigen Machthabers heute überhaupt noch?

Saif al-Islam ist weit von der Macht und dem Einfluss entfernt, den sein Vater und seine Familie früher einmal hatten. Es stimmt, dass ihn einige Stämme unterstützen. Gleichzeitig haben viele andere ihre Unterstützung aber zurückgezogen, weil sie Familienmitglieder haben, die zu einer der beiden Regierungen gehören. Hier geht es also weniger um politische Motive als um Stammesverflechtungen. Dadurch hat Gaddafi die meisten Befürworter verloren.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich allerdings immer mehr Menschen dafür ausgesprochen, die Gaddafi-Familie und den ehemaligen Geheimdienstchef Senussi zu unterstützen. Sie glauben, dass der Gaddafi-Clan, zurück an der Staatsspitze, im Stande wären, gegen den "Islamischen Staat" und die Extremisten zu kämpfen.

Die IS-Terrormiliz hat inzwischen in Libyen Fuß gefasst. Die libysche Armee kämpft unter der Führung von General Chalifa Haftar gegen die Dschihadisten. Ernannt wurde Haftar von der international anerkannten Regierung in Tobruk. Welchen Einfluss hat sie auf diese Kämpfe?

Die libysche Armee bekämpft den Islamischen Staat in Bengasi und den meisten Städten im Osten des Landes. Tripolis und der Westen werden hingegen vom IS kontrolliert. General Haftar agiert unabhängig. Er hat keine Verbindungen zu irgendeiner der kämpfenden Gruppierungen in Libyen. Das ist ein Grund, warum er sowohl von den beiden säkularen Gruppen als auch von den Islamisten gefürchtet wird: Er hat für niemanden Partei ergriffen. Er ist komplett unabhängig. Viele befürchten, dass er ähnlich vorgehen wird, wie Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten.

General al-Sisi hatte den ägyptischen Präsidenten und Muslimbruder, Mohammed Mursi, 2013 gestürzt. In der Folge kam es in Ägypten zu Massenunruhen. Glauben Sie, in Libyen könnte es zu einem ähnlichen Staatsstreich kommen?

Nach allem, was Haftar bislang gesagt hat, gehe ich nicht von einem Militärputsch in Libyen aus. Allerdings kann man das natürlich nie ausschließen.

Nassr al-Hawari ist einer der Gründer und Direktoren der in Alexandria ansässigen Menschenrechtsorganisation Observatory for Human Rights.

Das Interview führte Naomi Conrad, DW-Korrespondentin in Kairo.

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