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"Nicht mehr der Einzige mit Flagge am Auto"

Arne Lichtenberg29. Oktober 2012

Seit der WM 2006 gehört die kollektive Nationaleuphorie bei Fußball-Großereignissen zum Alltag. Eine Nation hat ihr Image geändert, sagen die einen. Neuer Nationalismus sagen die anderen.

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler spricht bei den Wittenberger Gesprächen in der Stadtkirche in Lutherstadt Wittenberg (Foto: dpa)
Ex-Bundespräsident Horst KöhlerBild: picture-alliance/dpa

Sommers 2006, Deutschland ist in Jubelstimmung. Die Temperaturen steigen auf über 30 Grad, keine Wolke am Himmel. Deutschland richtet die Fußball-Weltmeisterschaft aus, hat "die Welt zu Gast bei Freunden", wie es überall heißt. Die Stimmung scheint perfekt, das Wetter ebenso - und dazu siegt auch noch die deutsche Mannschaft im Turnier. Die ersten vier Spiele gewinnt sie souverän, im Viertelfinale schaltet sie im Elfmeterschießen die favorisierten Argentinier aus. Deutschland steht im Halbfinale. Der WM-Titel scheint zum Greifen nahe. Das Sommermärchen ist geboren. Die Menschen malen sich schwarz-rot-goldene Flaggen ins Gesicht, singen die Nationalhymne. Wohnungen, Häuser und Autos werden mit deutschen Fahnen geschmückt, friedlich pilgern Fangruppen zum Public Viewing und schauen sich die Spiele der deutschen Elf an. Das Ausland staunt und fragt sich: Das sollen die unfreundlichen, schlechtgelaunten Deutschen sein?


Unverkrampfter Patriotismus


Nach dem Turnier beschreiben manche politischen Beobachter die neue Begeisterung der Deutschen für Nationalsymbole als "unverkrampften Patriotismus". Die deutsche Bevölkerung habe zu einem vernünftigen und gesunden Nationalstolz gefunden. In diesem Zusammenhang ist auch das Zitat des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zu sehen: "Ich finde gut, dass ich nicht mehr der Einzige bin mit einer Flagge am Auto", sagt er am 5. Juli 2006 in einem Interview mit der Bild-Zeitung. Flagge zeigen war modern in diesen Wochen.Was 2006 auffiel: Die schwarz-rot-goldenen Fahnen wurden ziemlich schnell nach Ende der Weltmeisterschaft wieder eingeholt und verstaut. Die nationalen Ausnahmewochen hatten bald ein Ende. Jürgen Mittag, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, ist darüber auch nicht verwundert: "Diese Ereignisse werden in zunehmendem Maße als Events inszeniert - und dazu gehören auch nationale Symbole." Dahinter stecke vor allem eine "als Partyerlebnis gelebte Deutschland-Atmosphäre", sagt er.

Jürgen Mittag: "Ein inszeniertes Event"Bild: DW/Lichtenberg
Der schwarz-rot-goldene FußballrauschBild: Getty Images

Ein "nationales Coming-Out"


Erst bei den folgenden Fußballturnieren, der EM 2008, der WM 2010 und der EM 2012 wurden die Fahnen wieder ausgepackt. Die deutsche Mannschaft spielte gut und schnitt bei den jeweiligen Turnieren erfolgreich ab. Wieder versammelten sich die Massen vor den Leinwänden der Public-Viewing-Stätten und feuerten ihre Mannschaft an. Die Bilder erinnerten stark an die der WM 2006 im eigenen Land. Doch zu viel will der Sportwissenschaftler Diethelm Blecking von der Universität Freiburg nicht in das Gesellschaftsphänomen hineininterpretieren. "Viele Jugendliche haben heute ein Sinnproblem. Sie wissen nicht, was sie in den nächsten 20 Jahren erwartet", sagt Blecking. Vor allem junge Leute würden die Gemeinschaft beim Fußball suchen, um diese Leere zu füllen. Ein neu aufflammender Nationalismus stecke aber nicht dahinter.
Blecking sieht das Sommermärchen von 2006 viel eher als eine Art "nationales Coming-Out". Dieser Prozess sei aber nicht erst seit der WM 2006 im Gange, sondern schon im Grunde seit der Wiedervereinigung 1990, betont er. "Schon 1998 hat der Schriftsteller Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche in einer berühmte Rede gefordert, dass man sich von der Last der Geschichte befreit. Die ganze Versammlung hat sich damals nach der Rede erhoben und ihm stehend applaudiert."

Immerhin, die WM 2006 hat offensichtlich dazu beigetragen, dass die Deutschen auf die Leute im Ausland heute lockerer, lustiger und nicht mehr ganz so verkrampft wirken - egal, ob sie nun eine Flagge am Auto haben oder nicht.
 

Diethelm Blecking: "Junge Leute suchen die Gemeinschaft"Bild: DW/Lichtenberg
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