"Ich habe meine Befreiung nie genießen können"
27. Januar 2006DW-WORLD: Giuliana, Ihre Entführung in Bagdad jährt sich am 4. Februar zum ersten mal. Wie geht es Ihnen?
Giuliana Sgrena: In gewisser Weise fällt es mir jetzt schwerer, mich der Realität zu stellen. Ganz unmittelbar nach meiner Befreiung, nach den Schüssen, ging es um meine körperliche Gesundheit. Ich war ja schwer verletzt. Körperlich geht es mir jetzt besser als damals. Aber vom seelischen Standpunkt ist es heute viel schlimmer als unmittelbar danach.
Was beschäftigt Sie?
Die Erinnerung. Die Erinnerung belastet mich am meisten. Sie vergeht nicht. Ich war immer ein positiver, lebensfroher und kreativer Mensch. Ich war voller Pläne und Ideen und konnte die nächste Reise kaum abwarten. Aber jetzt sehe ich fast alles nur noch von der negativen Seite. Mir ist die Lebensfreude abhanden gekommen, ich stecke voller Angst, ich fühle mich kraftlos, ich habe meine Sicherheit verloren. Das verbittert mir mein Leben.
Was genau verbittert Sie?
Ich muss damit leben, dass meine Befreiung das Leben eines Menschen gekostet hat. Ich habe meine Befreiung nie, zu keinem Zeitpunkt, genießen können, weil dieser schwarze Schatten darauf liegt und alles andere überdeckt. Der Mensch, der mich befreit hat, der sich auf mich geworfen hat, um mich vor den Kugeln zu schützen, ist tot. Es ist für mich sehr schwer, damit zu leben.
Fällt es Ihnen schwer, Interviews wie dieses hier zu geben?
Ja, es fällt mir schwer, denn jedes Interview dreht auch die Geschichte zurück und lässt mich das alles noch einmal erleben. Aber es ist wichtig, darüber zu sprechen. Auch wenn es bedeutet, dass die Angst wieder hochkommt.
Sind Sie noch gerne Journalistin?
Aber ja, auf jeden Fall. Ich habe meine Arbeit immer geliebt, und ich liebe sie auch heute noch. Und die Tatsache, dass ich weiter als Journalistin arbeite, ist auch das, was mir am meisten hilft, in dieser schwierigen Zeit zu bestehen. Ich werde auf jeden Fall weitermachen.
Sie haben geschildert, wie sehr die Erinnerung Ihren Alltag beeinflusst. Wie schwer ist es Ihnen gefallen, Ihre Geschichte in Ihrem Buch „Friendly Fire“ so detailliert aufzuschreiben?
Am Anfang ist es mir sehr schwer gefallen, dieses Buch zu schreiben. Als ich letztes Jahr nach fast einem Monat aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Hause kam, da wollte ich sofort los schreiben, aber ich wusste nicht, wie und wo ich anfangen sollte. Mein Kopf war so voll. Aber als ich dann erst mal die ersten Sätze geschrieben hatte, ist es mir immer leichter gefallen. Es war fast wie eine Befreiung. Nach den vielen Interviews, die ich am Anfang gegeben habe, und in denen ich immer wieder dieselben Fragen beantworten musste, war das wirklich sehr, sehr anregend, endlich nach meinem eigenen Rhythmus und nach meinen eigenen Kriterien meine Geschichte aufzuschreiben. Wenn Sie so wollen, das war fast so etwas wie eine Therapie.
Ist „Friendly Fire“ Ihr Versuch, sich selber Antworten auf die Fragen zu geben, die Sie quälen?
Ja, das ist ganz sicher so, auch wenn ich nicht weiß, ob man das wirklich eine Aufarbeitung im wahrsten Sinne des Wortes nennen kann. Aber es hat mir sehr geholfen, dass ich meine eigene Geschichte in den historisch-politischen Zusammenhang des Irak-Kriegs gestellt habe. Denn meine Entführung ist davon nicht zu trennen. Sie ist vor genau diesem Hintergrund passiert. Das Buch ist der Versuch, vielleicht nicht nach den Gründen, aber doch nach den Wurzeln dessen zu suchen, was mit mir passiert ist. Das genügt nicht, um das Trauma zu beenden. Denn meine Geschichte ist eine Geschichte voller Gewalt. Aber es hilft mir, wenn ich meine Geschichte wie im Buch dargestellt in direktem Zusammenhang mit der Lage im Irak sehen kann.
Mich hat das ehrlich gesagt überrascht. Ihr Buch ist vor allem Ihre politische Analyse der Lage im Irak. Ihre persönliche Geschichte tritt oft in den Hintergrund.
Ja, aber das eine hängt mit dem anderen direkt zusammen. Die beiden „Friendly Fire“ sind nicht von einander zu trennen, eins traf mich und kam von der irakischen Seite, und eins kam von der US-amerikanischen Seite und traf meinen Befreier. Der Krieg im Irak, meine Entführung und die Schüsse 20 Minuten nach meiner Befreiung sind nicht voneinander zu trennen.
Darüber möchte ich später noch ausführlicher sprechen. Aber zunächst würde mich interessieren, ob Ihnen deshalb von Anfang an klar war, dass Sie Ihr Buch „Friendly Fire“ nennen müssen?
Nein, das war mir nicht sofort klar. Es sollte nur von Anfang an der Titel des Films sein, der über meine Geschichte gemacht werden soll. Aber es trifft den Kern dessen, was passiert ist, genau. Der Titel passt. Es war ein doppeltes „Friendly Fire“. Einmal auf meinen Befreier durch die USA. Und einmal auf mich, eine Pazifistin, Kriegsgegnerin und Freundin des Irak, durch einen Teil des bewaffneten irakischen Widerstands.
Giuliana, Sie schreiben in Ihrem Buch immer wieder, dass Sie die Frage nach dem warum, warum ich, warum Nicola Calipari, sehr quält. Hat das Schreiben daran etwas geändert?
Die Frage nach dem Warum ist nur bis zu einem gewissen Grad überholt. Ich stelle Sie mir nur seltener. Denn es gibt bis heute keine richtige Antwort auf diese Frage. Ich bin entführt worden, obwohl ich eine Pazifistin bin, obwohl ich von Anfang an gegen diesen Krieg und gegen die Besatzung war, obwohl ich auf der Seite des irakischen Volkes stehe. Vielleicht wussten die Entführer am Anfang nicht, wer ich bin. Ich weiß es nicht. Aber selbst wenn sie es gewusst hätten, hätte es keinen Unterschied gemacht. Denn es ist einfach nicht darüber hinweg zu täuschen, dass alle westlichen Ausländer ein Teil dieses Kriegs geworden sind. Keiner will Zeugen. Und für fast alle Gruppen des bewaffneten Widerstands gegen die Besatzung sind westliche Ausländer, ohne Unterschied, zu einer Waffe in diesem Krieg geworden.
Ist Ihr Buch eine Abrechnung mit der US-Politik im Irak?
Ja. Und einmal abgesehen davon, dass ich als Pazifistin fest daran glaube, dass es keinen richtigen oder gerechten Krieg gibt, ist dieser Krieg im Irak jetzt mit Sicherheit das Resultat der Politik der Vereinigten Staaten, der sich dann andere Länder angeschlossen haben, Italien eingeschlossen. Und die Massaker, die wir heute jeden Tag sehen, sind die Konsequenz dieser Politik. In Italien spricht die Regierung von einer Friedensmission, aber das entspricht nicht der Wahrheit. Was für eine absurde Friedensmission ist das? Die Bombardierungen gehen weiter, und es sterben jeden Tag Menschen. Da kann man doch nicht von einer Friedensmission sprechen. Und auch die Untersuchungskommission des US-Militärs, die unseren Fall untersucht hat, ist in ihrem Abschlussbericht zu dem Urteil gekommen, dass es richtig war, auf unser Auto zu schießen, weil im Irak Krieg herrscht.
Sind Sie eine Anti-Amerikanistin?
Der Vorwurf, dass ich anti-amerikanisch bin, ist absolut nicht gerechtfertigt. Ich bin nicht anti-amerikanisch, sondern ich bin gegen die Politik der Bush-Administration, die diesen Krieg zu verantworten hat. Es gibt ja auch in den Vereinigten Staaten großen Widerspruch gegen diesen Krieg. Und mein Buch wird im Juni auch in den USA erscheinen. Und ich möchte noch etwas dazu sagen. Auch der Soldat, der auf unser Auto geschossen hat, Mario Lozano, gegen den die italienische Staatsanwaltschaft wegen vorsätzlicher Tötung ermittelt, auch dieser Soldat ist ein Opfer dieses Kriegs und ein Opfer dieser Politik. Und ich will auf gar keinen Fall, dass da ein Modell-Fall konstruiert wird und ihm die alleinige Verantwortung zugeschoben wird für etwas, was eigentlich die Regierung Bush zu verantworten hat. Ich will Gerechtigkeit, keinen Sündenbock.
Sie haben jetzt schon mehrfach vom Krieg im Irak gesprochen. Wo steht das Land Ihrer Meinung nach?
Obwohl es Wahlen gegeben hat und viele von einer Demokratisierung des Irak sprechen, halte ich diese Einschätzung für absolut falsch. Denn die Tatsache, dass die irakischen Frauen ihre Rechte verloren haben, und dass die meisten Parteien, die sich zur Wahl gestellt haben, durch eine Fatwa, also durch ein religiöses Verdikt, bestimmt worden sind, und dass es keine politische und persönliche Entscheidungsfreiheit gibt, das alles macht doch deutlich, dass man nicht von einer Demokratisierung sprechen kann. Solange das irakische Volk nicht souverän ist, gibt es auch keine Demokratisierung.
Die Wahlen, der Präsident, die Regierung, die Verfassung. Ist das nichts?
Es gibt keine Demokratisierung im politischen Sinne, und es gibt sie nicht im Alltag. Ich bekomme laufend E-Mails von meinen irakischen Freunden, und die bestätigen genau das, was ja auch augenscheinlich ist. Die Situation verschlechtert sich zunehmend. Das gilt für die wirtschaftliche Entwicklung genauso wie für die Sicherheitslage. Es sterben jeden Tag Menschen. Sie sterben durch die Autobomben der Terroristen, durch die Schüsse der verschiedenen Milizen und durch die Bombardierungen der Besatzungstruppen unter US-amerikanischer Führung. Und genau die Menschen, die sich im Irak für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, ob in internationalen oder in irakischen Organisationen, landen regelmäßig im Gefängnis. Wie passt das alles zum Bild eines demokratisierten Irak?
Sie sprechen in Ihrem Buch von der Dreiteilung des Landes. Die Kurden im Norden, die Sunniten in der Mitte, die Schiiten im Süden. Sie sagen, dass der Westen diese Teilung forciert hat, um das Land nach dem Sturz Saddams besser kontrollieren zu können. Sie fordern aber gleichzeitig den sofortigen Abzug der Besatzungstruppen. Wie passt das zusammen? Der sofortige Rückzug würde doch alles nur noch schlimmer machen. Es ist doch keine andere Institution da, die für Sicherheit sogen kann.
Jedes Mal, wenn ich seit Beginn der Besatzung in den Irak zurückgekommen bin, war es schlimmer als vorher. Das Land ist jetzt seit 3 Jahren besetzt, und es gibt keine Sicherheit. Es gibt noch immer keinen Strom. Es gibt noch immer kein Licht. Es gibt kein Wasser. Es gibt kein Benzin. Kein Benzin, ausgerechnet im Irak. Es fehlt an allem. Und das Argument, dass es einen Bürgerkrieg geben würde, sobald sich die Okkupationstruppen zurückziehen, ist hinfällig, weil es den Bürgerkrieg schon längst gibt. Es gibt ihn seit zwei Jahren.
Woran machen Sie den Bürgerkrieg im Krieg fest?
Jeden Tag sterben Dutzende Menschen in diesem Bürgerkrieg. In Basra zum Beispiel hat es viele Fälle von Lynchjustiz gegeben. Da haben schiitische Milizen, schiitische Todesschwadrone, gezielt Geschäfte von Christen angezündet, weil sie Alkohol verkauft haben, und ganz oft sind die Eigentümer mit ihren Familien in den Flammen verbrannt. Es gibt Überfälle von den schiitischen Religionsmilizen auf arabischen Sunniten, weil die Sunniten ihren Glauben anders leben als die Schiiten. Es gibt gezielte Angriffe auf ehemalige Mitglieder der Baath-Partei, obwohl nicht alle Baathisten automatisch auch an den Massakern und Folterungen des Saddam-Regimes beteiligt waren. Und es gibt Überfälle von sunnitischen Milizen und Terroristen auf Schiiten, weil die Schiiten ihren Glauben anders leben als die Sunniten. Die verschiedenen Religionsgruppen sind gegeneinander aufgehetzt. Sie fordern Opfer von der jeweils anderen Seite. Das ist doch der Beweis dafür, dass der Bürgerkrieg schon längst begonnen hat, obwohl die Besatzungstruppen da sind.
Und wenn die Besatzungstruppen gehen hört das Morden auf?
Natürlich gebe ich mich nicht der Illusion hin, dass diese Angriffe und die Gewalt nach dem Abzug der Besatzungstruppen sofort aufhören würden. Nein, die Situation würde sich nicht schlagartig verbessern. Wahrscheinlich würde das Blutvergießen zwischen den Irakern, das nach dem Sturz Saddams eingesetzt hat, weitergehen. Trotzdem ist der Abzug der ausländischen Truppen absolut notwendig, um im Irak eine andere Dimension der Auseinandersetzung zu finden und um eine andere Dynamik in Gang zu setzen, die diesen Teufelskreis durchbricht.
Aber wie könnte das gehen? Glauben Sie noch an die eine, irakische Nation?
Es ist nicht meine Aufgabe, an die irakische Nation zu glauben oder nicht. Als ich vor vielen Jahren im Land war, da war es eindeutig. Wenn du jemanden gefragt hast, bist du Sunnit oder Schiit, oder bist du Kurde, dann haben die allermeisten geantwortet, ich bin Iraker, und sie haben eben nicht auf deine Frage geantwortet. Die einzigen, die das damals schon mit Stolz getan haben, waren die Kurden. Und das ist zumindest zum Teil sicher auch heute noch so. Es könnte also sein, dass diese Grundtendenz, sich zu allererst als Iraker zu begreifen und sich erst dann religiös oder ethnisch zu definieren, als Basis auch heute noch besteht. Aber mehrheitlich? Ich weiß es nicht. Soviel ist für mich klar: Eine Dreiteilung, eine Libanisierung oder eine Balkanisierung des Irak, das wäre eine Katastrophe für das Land und für die gesamte Region.
Bleiben wir im Irak. Was bedeutet die faktische Dreiteilung für die irakische Gesellschaft?
Wissen Sie, meine letzten beiden Übersetzer im Irak waren aus total gemischten Familien. Bei meinem letzten Dolmetscher war zum Beispiel die Mutter Schiitin und der Vater war Sunnit. Und er selber ist mit einer Kurdin verheiratet. Und die Kinder haben sich zum Teil der einen, und zum Teil der anderen Religionsgemeinschaft zugehörig gefühlt. Das ging nahtlos ineinander über. Aber das ist heute, davon bin ich überzeugt, unmöglich, weil sich die Menschen bewusst von einander abgrenzen. Sie bleiben freiwillig oder gezwungen innerhalb ihrer eigenen Religionsgemeinschaft, größtenteils sogar innerhalb ihres eigenen Stamms. Und das ist eine deutliche Rückwärtsentwicklung der irakischen Gesellschaft.
Themawechsel, und kein einfacher an dieser Stelle. Giuliana, ich möchte mit Ihnen über das neunte Kapitel Ihres Buchs „Friendly Fire“ sprechen. Die Überschrift heißt ‚Der Unfall’, obwohl das die Lesart der USA ist. Darin schildern Sie, wie ihr Befreier durch US-amerikanische Kugeln stirbt. Welchen Raum nimmt Nicola Calipari in Ihren Gedanken ein?
In meiner Erinnerung, und in allem, was ich tue, ist Nicola Calipari bei mir. Nicht umsonst ist der letzte Satz meines Buchs, dass ich nicht aufhören werde, nach der Wahrheit zu suchen. Die Tatsache, dass die italienische Staatsanwaltschaft den Mörder Nicola Caliparis, den Marineinfanteristen Mario Lozano, anklagen will, ist ein ganz wichtiger Schritt. Aber die Schwierigkeiten, die uns jetzt auch in Italien in den Weg gelegt werden, um der Gerechtigkeit näher zu kommen, sind erheblich. Denn das würde zwangsläufig eine harte, juristische Auseinandersetzung zwischen den USA und Italien bedeuten. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Regierung Berlusconi bereit ist, diese Auseinandersetzung zu führen.
Die USA haben den Fall längst zu den Akten gelegt und die beteiligten Soldaten, die am 4. März 2005 am mobilen Checkpoint in der Nähe des Flughafens Dienst hatten, einschließlich des Todes-Schützen Mario Lozano, von jedem Vorwurf freigesprochen. Nur die italienische Justiz ermittelt weiter. Was versprechen Sie sich davon?
Die italienische Staatsanwaltschaft hat eine offizielle Anfrage in Sachen Mario Lozano gestellt. Sie hat Mario Lozano als Todesschützen identifiziert, weil im Untersuchungsbericht des US-Militärs steht, dass er derjenige war, der geschossen hat. Lozano ist also namentlich identifiziert, aber nicht physisch. Und um ihn physisch zu identifizieren, hat die italienische Staatsanwaltschaft die zuständigen Behörden in den USA um Amtshilfe gebeten. Es geht darum festzustellen, wie sich seine Einheit in jener Nacht zusammengesetzt hat, wie die Informations- und Befehlsstruktur war und warum er auf uns geschossen hat. Aber die USA haben diese Anfrage ignoriert. Und obwohl der italienische Justizminister die Anfrage der Staatsanwaltschaft unterschrieben hat, tut er jetzt nichts, um ihr Nachdruck zu verleihen.
Und was bedeutet das?
Es ist doch seit jeher gängige Praxis, dass US-Soldaten, die im Ausland stationiert sind und sich schuldig machen oder Fehler machen, nicht bestraft werden. Es gibt nur eine einzige Ausnahme. In Okinawa hat ein Gericht zwei Soldaten schuldig gesprochen, weil sie eine junge Frau vergewaltigt haben. Und auch insofern ist es völlig klar, dass die Widerstände, die der Klärung im Fall Calipari im Weg stehen, erheblich sind. Es ist zu bezweifeln, wahrscheinlich ist es sogar unmöglich, dass Mario Lozano jemals physisch identifiziert wird. Und selbst wenn, ist es ausgeschlossen, dass die italienische Staatsanwaltschaft ihn je verhören kann, geschweige denn, dass die Vereinigten Staaten ihn ausliefern.
Sie wollen trotzdem weiter machen, sagen Sie. Wie lange? Wollen Sie den Rest Ihres Lebens als Don Quichotte verbringen?
In Italien gibt es eine ganz starke Bewegung, ich bin nicht alleine. Viele Menschen glauben wie ich, dass sie ein Recht darauf haben, die Wahrheit zu erfahren. Sie verlangen, dass die Verantwortlichen für Nicolas Tod vor Gericht gestellt werden. Und auch der Präsident der Republik Italien, Ciampi, hat vor kurzem noch mal ganz deutlich gesagt, dass er sich dafür einsetzen will, dass es im Fall Nicola Calipari Gerechtigkeit gibt. Die Tatsache, dass es ein schwieriger, vielleicht auch ein unmöglicher Kampf ist, kann uns nicht davon abhalten, ihn trotzdem zu führen, um für die Wahrheit zu kämpfen.
Die Schüsse vom 4. März 2005 töteten Nicola Calipari und verletzten Sie schwer. Eine Kugel traf Sie in die linke Schulter. Ihr Oberarmkopf splitterte, die Kugel riss ein Stück ihres Delta-Muskels weg. Splitter drangen in Ihren linken Lungenflügel ein, verletzten das Brustfell, der linke Lungenflügel kollabierte. Sie sind sofort im US-Militärkrankenhaus in Bagdad operiert worden. Nach Ihrer Rückkehr lagen Sie dann für einen Monat in einem italienischen Militärkrankenhaus, und erst hier haben Sie den Tod Nicola Caliparis richtig realisiert.
Das Gefühl wird nie weggehen. Was geschehen ist, kann ich nicht vergessen.
Giuliana, ich verstehe, dass der Tod Nicola Caliparis alles überschattet. Aber Sie waren auch vier Wochen in Geiselhaft und hatten Todesangst, auch wenn Ihnen Ihre Entführer zum Abschied ein Goldkettchen geschenkt haben und keine radikalen Fundamentalisten waren. Über Ihre Zeit als Geisel reden Sie viel seltener als über die tödlichen Schüsse. Wie sehr hat Sie die Gefangenschaft und die Ungewissheit dieser 28 Tage traumatisiert?
Ich kann das nicht trennen. Ich weiß nicht, was die Folgen der Geiselhaft und was die Folgen der Schüsse nach meiner Befreiung sind. Es ist bis heute so, dass die Erschießung Nicola Caliparis alles überlagert. In genau dem Moment, in dem ich gerade anfing zu realisieren, dass ich wirklich frei bin, zerstörten die Schüsse meine aufkeimende Freude. Sie töteten den Mann, der mich befreit hat und der mich mit seinem Körper vor den Kugeln geschützt hat. Er lag auf mir, als er starb. Ich bin frei und lebe. Er hat sein Leben für mich gegeben. Sein Tod überschattet alles. AAAAber was wahrscheinlich eher eine Folge meiner Geiselhaft ist, das ist die Klaustrophobie, unter der ich heute leide. Ich kann mich nicht mehr wie früher unbefangen unter vielen Menschen bewegen. Aber ich weiß es nicht. Meine große Unsicherheit und die Angst, mit der ich jetzt lebe, hängen ganz sicher vor allem mit Nicolas Tod zusammen. Ich leide an permanenter Schlaflosigkeit. Ohne Medikamente kann ich überhaupt nicht schlafen. Ich habe Beklemmungen und Angst, verlassen zu werden. Ich kann auch nicht mehr einschlafen, ohne dass das Licht brennt. Es gab nur ein paar Situationen während meiner Geiselhaft, in denen es mir gelungen ist, tief zu schlafen. Aber das Erwachen in Gefangenschaft war dann immer ein solches Trauma. Es war ein so großer Albtraum, dass ich bis heute Angst davor habe, einzuschlafen. Ich habe Angst davor, dass ich dann plötzlich aufwache und wieder gefangen bin. Das ist vielleicht der einzige Punkt, den ich eindeutig auf meine vier Wochen als Geisel zurückführen kann.
Giuliana, fühlen Sie sich schuldig? Fühlen Sie sich mitschuldig an Nicolas Tod? Sie haben im Irak immer unabhängig gearbeitet, Sie haben sich ohne Schutz bewegt, um frei mit den Menschen sprechen zu können. Am Tag Ihrer Entführung waren es Flüchtlinge aus der zerstörten Stadt Falludscha, die sich nach den US-amerikanischen Dauer-Bombardements im November 2004 nach Bagdad durchgeschlagen hatten. Der eigenen Anspruch an Ihre Arbeit hat Sie zur Geisel gemacht.
Nein. Ich habe keine Schuldgefühle. Ich war dort, um meine Arbeit zu machen, wie ich sie immer gemacht habe. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass man nur so als Journalist arbeiten kann. Wir müssen unter die Leute gehen, die betroffen sind. Wir müssen ihnen zuhören, und wir müssen das, was passiert, aus ihrer Sicht dokumentieren. Wie sonst hätte ich über den Krieg im Irak berichten können? Was ist das für ein Journalismus, wenn die Reporter nur im Hotel sitzen und Agenturen lesen, oder wenn sie in die Truppen der Besatzer eingebettet sind oder sich mit bewaffneten Milizen umgeben? Und ich nehme es da mit jedem auf, der mich hinsichtlich meiner Arbeit angreift, und behauptet, dass man auch anders aufrichtig journalistisch arbeiten kann. Das kann man nicht.
Also würden Sie …
Entschuldigung. Und was mir ganz besonders hilft ist die Tatsache, dass Nicola Calipari mich verstanden hat. Er war davon überzeugt, dass es richtig war, so zu arbeiten, wie ich es getan habe. Er hat meine Arbeit sehr geschätzt. Das hat er in Gesprächen mit meiner Familie und meinen Kameraden immer wieder gesagt. Nicola Calipari hat sich mit vollem Einsatz für mich engagiert, weil er davon überzeugt war, dass ich nichts anderes als meine Arbeit gemacht habe.
Würden Sie alles wieder genauso machen?
Was den Irak betrifft, bin ich auf der professionellen Ebene völlig desillusioniert. Ich kann dort im Moment nicht mehr arbeiten. Denn die Art und Weise, wie ich arbeiten will, so, wie ich es für richtig halte, und wie ich glaube, dass Journalisten über den Irak und über den Krieg im Irak informieren müssen, ist unmöglich. Auch wenn es zwingend nötig ist, dass Journalisten berichten. Aber so wie ich es verstehe, ist es unmöglich. Ich kann nicht mehr unabhängig Zeugnis über das Leid der Opfer ablegen. Ich kann ihnen keine Stimme mehr geben, und es ist sehr schwer für mich, dieses Diktat der Gewalt zu akzeptieren. Aber auf der politischen Ebene habe ich eigentlich durch meine Geschichte nur das bestätigt bekommen, wovon ich auch schon vorher fest überzeugt war. Der Irak stürzt ab, das Land erlebt eine Degeneration des Kriegs. Und meine Geiselnahme ist ein direktes Resultat dieser Degeneration.
Giuliana, was wünschen Sie sich?
In politischer Hinsicht wünsche ich mir Gerechtigkeit, aber nicht so sehr für mich, sondern für die Familie von Nicola Calipari. Für seine Frau und seine Kinder. Für mich ganz persönlich wünsche ich mir, dass ich wieder zurückkehren kann zu meiner Arbeit. Ich arbeite wieder, ja, von zu Hause, aber ich will wieder so arbeiten können, wie ich es immer getan habe. Aber dem steht meine große Unsicherheit im Weg. Ich würde sehr gerne meine Sicherheit und mein Selbstvertrauen zurückgewinnen. Ich möchte wieder schlafen können, und ich will keine Angst mehr haben. Es wird Dinge geben, die ich nie heilen kann, das weiß ich. Aber das wichtigste für mich wäre, dass ich wieder arbeiten und reisen kann so wie früher. Mit meiner alten Energie und mit meinem alten Geist.
Giuliana Sgrena ist eine bekannte italienische Journalistin, die vor allem für die kommunistische Tageszeitung "Il Manifesto" arbeitet.