38 Jahre im Exil
2. April 2008"Es sind nur Lippenbekenntnisse", ärgert sich Tsewang Norbo über die Bundesregierung und ihre Reaktionen auf das chinesische Vorgehen gegen Demonstranten in Tibet. Seit Wochen sammelt der 48-Jährige Unterschriften, geht auf Protestkundgebungen und Mahnwachen, um auf die Situation in Tibet hinzuweisen und die deutsche Regierung zu deutlicheren Worten gegenüber China zu bewegen. "Zumindest einen Olympiaboykott hätte man von vorne herein nicht ausschließen dürfen, um weiter Druck auf China ausüben zu können", meint Norbo, der schon seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt.
"Ich sehe die schöne Landschaft, wenn ich an Tibet denke"
Mit zehn Jahren floh er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester aus dem tibetischen Dorf Singeri. Norbos Familie, einfache Bauern ohne starke politische Ambitionen, verließ im Zuge des Volksaufstandes 1959, bei dem über 90.000 Tibeter umkamen, das Dorf . "Ich sehe die schöne Landschaft und das klare Wasser vor meine Augen, wenn ich an Tibet denke", erzählt Norbo, einer der Mitbegründer des Vereins der Tibeter in Deutschland. Seit der Flucht kam er nicht in sein Heimatland zurück.
Seine Familie ging nach Indien, wie so viele andere. Etwa zwei Drittel der Exiltibeter leben dort, die meisten im nordindischen Dharamsala, dem Sitz der Exilregierung Tibets. Von hier aus organisiert und verbindet die Regierung die weltweit verstreute Gemeinschaft der Exiltibeter. Über Büros in den USA, Kanada und Europa werden Wahlen ausgeschrieben und Aktionen geplant - so auch jetzt, da Demonstrationen rund um den Globus stattfinden. In Nepal, Indien, Deutschland und Großbritannien gehen Tibeter und Unterstützer der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung auf die Straße. Auch Norbo war bei der letzten Demonstration in München am Montag (31.3.08) dabei. "Ich kann nicht akzeptieren, dass China unrechtmäßig in Tibet ist", sagt er. "Und ich habe die Chance, in einer freien Welt zu leben. Das bringt auch die Verantwortung mit sich zu handeln."
So wie Norbo leben etwa 150.000 Tibeter im Ausland. Auf den ersten Blick erscheint dies nur eine kleine Anzahl zu sein; erst angesichts der geringen Einwohnerzahl Tibets von unter drei Millionen wird die Größe und Bedeutung der im Ausland lebenden tibetischen Gemeinschaft deutlich. Neben Indien und Nepal zählen die USA und Kanada zu den häufigsten Wohnorten der Exiltibeter.
Ins Exil für eine bessere Schulbildung
Der Volksaufstand von 1959 und seine Folgen brachte die erste große Einwanderungswelle mit sich, heute verlassen etwa 2000 bis 3000 Menschen jährlich das Land, schätzen Tibetologen. Vor allem Kinder werden von ihren Eltern ins Ausland geschickt, damit sie eine ausreichende Schulbildung bekommen - unabhängig von den Vorgaben der chinesischen Regierung und ausgerichtet an der tibetanischen Kultur und Religion.
In Deutschland lebt nur eine kleine Gruppe Exiltibeter - etwa 300. Norbo zog es zum Studium hierher, seine Schwester ging in die Schweiz. Dort hat sich die größte tibetische Gemeinde in Europa gesammelt - mit etwa 3000 Auswanderern. Die Alpen, die entfernt an die tibetische Landschaft erinnert, haben - so heißt es - die Tibeter in das Land gelockt. Doch nicht die gute Gebirgsluft ließ die Tibeter ins Land kommen: Der eigentliche Grund ist die Bereitschaft der schweizerischen Regierung, nach dem Volksaufstand der Tibeter, eine große Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Mittlerweile steht in der Alpenrepublik auch das einzige vom Dalai Lama anerkannte tibetische Kloster im Westen, zahlreiche Vereine kümmern sich um Religion und Kultur der Exiltibeter.
Telefongespräche aus Tibet abgehört
Durch den Mythos von Tibet und den Dalai Lama sei das Interesse an den Geschicken Tibets in Europa und Deutschland groß, sagt Norbo. "Doch es wird nicht gehandelt." Auch dem Dalai Lama, seinem Aufruf zum Gewaltverzicht und seiner Bereitschaft, nur eine Autonomie Tibets innerhalb Chinas anzustreben, steht Norbo kritisch gegenüber. "Ich bin nicht für Gewalt", sagt der 48-Jährige. "Aber jahrelang ist nichts passiert, weder in China noch von Seiten der internationalen Gemeinschaft." Daher wäre Gewalt zumindest eine Option, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Und er glaubt, dass immer mehr Tibeter, die ihr Land noch nicht verlassen haben, ähnlich denken.
Was wirklich gerade in Tibet passiert, das kann Norbo zurzeit fast ausschließlich aus den staatlichen chinesischen Medien und dem Internet erfahren. Das Festnetz sei mittlerweile gesperrt, Handys würden bisweilen funktionieren, aber abgehört werden, erzählt er. Manchmal gelänge es noch, Botschaften verschlüsselt zu senden. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete ein Freund am Telefon in Tibet: "Nicht so gut. Es ist kalt, sehr kalt. 500 Schafe sind schon gestorben." Ob das nun bedeute, es gäbe 500 Verletzte oder bereits 500 Tote, das weiß Norbo selbst nicht. Aufgeben möchte er nicht. Daher sei er bei der nächsten Demonstration in Deutschland wieder dabei. Nach Tibet zurückgehen, das kommt für ihn allerdings nicht in Frage. "Ich bin deutscher Staatsbürger", meint er. Daher würde er wahrscheinlich keine Probleme mit der chinesischen Regierung bekommen. "Doch ich möchte nur in ein freies Tibet zurückkehren." Dass sein Land einmal die Unabhängigkeit erlangen wird, daran zweifelt Norbo nicht. "Die Frage ist bloß, ob es in diesem Leben geschieht oder erst in einem späteren."