Die extreme Rechte radikalisiere sich weiter, sagt die Publizistin Simone Rafael. Auch angebliche Einzeltaten spiegelten die Bedrohung, die von der Szene ausgeht. Ein Interview über die Normalisierung von Gewalt.
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Rechte Gewalt in Deutschland ist nicht neu, doch die Gewalttaten häufen sich. Laut dem Verfassungsschutzbericht 2018 ist die Zahl der Körperverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund um knapp vier Prozent gestiegen. Die Zahl der Mordversuche stieg von vier auf sechs. 2019 ist bereits ein Mord zu verzeichnen - der an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Im Falle der Schüsse von Wächtersbach ist aus allgemeinen Drohungen gegen Menschen ausländischer Herkunft ein Mordversuch geworden. Das Opfer ist ein offenbar beliebiger Vertreter dieser Gruppe. Beide Arten von Drohungen finden in Sozialen Netzwerken mittlerweile täglich statt, sagt Simone Rafael von der Amadeu Antonio Stiftung.
Deutsche Welle: Frau Rafael, nach dem Mordanschlag in Wächtersbach sprechen nun wieder Menschen von einer neuen Qualität der Ereignisse: Sehen Sie das auch so?
Simone Rafael: Die Radikalisierung in der rechtsextremen und auch in der rechtspopulistischen Szene schreitet offensichtlicher fort als bisher. Durch rechte Demonstrationen und Hassrede in sozialen Netzwerken haben sich rassistische oder rechtsextreme Positionen mittlerweile normalisiert. Inzwischen haben wir eine überbordende Menge an Morddrohungen gegen Politiker, Journalisten und Aktivisten, Bombendrohungen gegen öffentliche Gebäude wie Gerichte und Rathäuser oder auch gegen ein Kino, das einen Film gegen Rechtsextremismus zeigen will.
Wird die Bedrohung durch Taten realer?
Ich fürchte, dass Drohungen im Netz Gewalttaten inspirieren, weil sich die Täter damit legitimiert fühlen und meinen, passend zu einer vorgeblichen Mehrheitsmeinung zu agieren. Aber natürlich gilt auch umgekehrt: Wenn ich weiß, dass Rechtsextreme Leute ermorden oder attackieren, muss ich eine Gewaltandrohung natürlich ernster nehmen.
Rechte und rechtsextreme Tendenzen in Deutschland finden sich laut der "Mitte-Studie" der Universität Bielefeld seit längerem relativ konstant in der deutschen Gesellschaft. Warum veranlasst diese Ideologie mittlerweile Menschen zum Handeln?
Die rechtsextreme Szene wähnt sich in einem imaginierten Bürgerkrieg, das konnten wir schon in den letzten Jahren in den sozialen Netzwerken erkennen. Nun rufen sie dazu auf, zu den Waffen zu greifen und um Deutschland zu kämpfen, bevor alles verloren geht, was sie als deutsch empfinden.
Wie kommt es, dass sich die Gewalt gerade jetzt Bahn bricht?
Die rechtsextreme oder rechtspopulistische Szene war relativ erfolgreich damit, ihre Thesen in die Öffentlichkeit zu bringen. Wenn wir uns allein die massive Aufregung um zwei Kitas in Leipzig anschauen, die kein Schweinefleisch mehr auf ihrem Speiseplan haben wollen: Das hat nicht nur zu einem massiven Shitstorm geführt, sondern auch dazu, dass die Polizei es für nötig empfand, mit den Kitas Gespräche wegen möglichen Gefährdungen zu führen - nicht zuletzt, weil auch eines der größten deutschen Boulevardmedien dieses Thema auf die Agenda gesetzt hat. (Die "Bild"-Zeitung berichtet ausführlich über die Kita in Leipzig, d.R.) Darum muss sich die rechtsextreme Szene selbst jetzt nicht mehr kümmern.
Gleichzeitig bewegen sich Leute, die bestimmten Ideologien anhängen, in entsprechenden Netzwerken, in denen sie permanent mit neuen Hiobsbotschaften versorgt werden, sodass in dieser Szene ein Gefühl von Handlungszwang entsteht.
"Kontakte zur organisierten rechtsextremen Szene sind gar nicht mehr nötig"
"Die Szene" - das klingt sehr abstrakt. Es gibt ja im rechten Spektrum nicht nur PEGIDA, sondern auch noch extremere Organisationen wie das internationale Neonazi-Netzwerk "Combat 18", zu dem auch die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) Verbindungen hatte. Über den mutmaßlichen Täter von Wächtersbach heißt es dagegen, er habe zwar klar rassistische Motive verfolgt, aber keine Kontakte zur Szene gepflegt.
Ich muss immer ein bisschen schmunzeln, wenn ich solche offiziellen Stellungnahmen höre. Kontakte zur organisierten rechtsextremen Szene sind gar nicht mehr nötig, um sich mit diesem Gedankengut zu versorgen. Das funktioniert sehr gut über soziale Netzwerke.
Die klassischen Neonazis sind natürlich weiterhin präsent, gewaltbereit und gefährlich. Aber innerhalb der letzten zwei, drei Jahre haben sich völlig neue Täter und Täterinnen entwickelt - Menschen, die vorher nie strafrechtlich relevant in Erscheinung getreten waren. Den Behörden sind sie daher nicht bekannt als Rassisten oder Rechtsextreme, wohl aber in ihrem eigenen Umfeld. Dort haben sie sich so weit radikalisiert, dass sie sich Waffen besorgen und dann auch einsetzen.
Manch einer fordert von den Sozialen Netzwerken, dass sie gegen Hassrede und Mordaufrufe vorgehen. Was halten Sie davon?
Ich bin kein Fan davon, alles zu regeln, ich erhoffe mir immer, dass man zivilgesellschaftlich weiterkommt. Allerdings möchte ich tatsächlich auch ein Netzwerk in der Pflicht sehen, Verantwortung für das zu übernehmen, was auf seinen Kanälen passiert. Aber wenn wir in einen strafrechtlich relevanten Bereich wie Aufruf zu Gewalttaten oder Mord kommen, sind die Strafverfolgungsbehörden in der Pflicht. Und die sind in Deutschland bislang zu wenig spezialisiert auf Kriminalität im Netz.
"Opfer rechtsextremer und rechtspopulistischer Angriffe werden nicht ernst genommen"
Es heißt, rechtsextreme Positionen würden wieder salonfähig - auch weil bestimmte Behörden bei Straftaten aus diesem Spektrum nicht so genau hinsehen würden. Könnte man den Rechtsextremismus also durch konsequentere Strafverfolgung wieder aus den Salons verdrängen?
Wir sehen ganz stark in sozialen Netzwerken und zum Teil auch in der realen Welt, dass die Opfer rechtsextremer und rechtspopulistischer Angriffe nicht ernst genommen werden, Straftaten über Jahre nicht verfolgt worden sind. Das erzeugt ein Gefühl, dass es schon okay wäre, bestimmte Dinge zu sagen oder zu machen. Da sehe ich sehr deutlich unsere Strafverfolgungsbehörden in der Pflicht, sich dem ständig radikalisierenden Rechtsextremismus zuzuwenden und entsprechend stärker durchzugreifen als bisher.
NSU-Prozess: Im Namen des Volkes...
...werden am 11. Juli vor dem Oberlandesgericht München die Urteile gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" gesprochen. Begonnen hat das Strafverfahren am 6. Mai 2013. Ein Blick zurück.
Bild: AFP/Getty Images/C. Stache
Das Gesicht des NSU: Beate Zschäpe
Neun Männer mit Migrationshintergrund werden zwischen 2000 und 2006 mit derselben Pistole vom Typ "Ceska" erschossen. Die Polizei tappt im Dunkeln. In den Medien ist von "Döner-Morden" die Rede. Am 4. November 2011 explodiert in Zwickau ein Wohnhaus. Im Schutt entdecken Ermittler die Tatwaffe und ein Bekenner-Video. Vier Tage später stellt sich Beate Zschäpe der Polizei.
Bild: dapd
Das mutmaßliche NSU-Trio
Schon 1998 ist Beate Zschäpe mit ihren rechtsextremistischen Freunden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in den Untergrund gegangen. Das Trio lebt fast 14 Jahre unentdeckt an verschiedenen Orten, zuletzt in Zwickau. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Terrorgruppe mordend und bombend quer durch Deutschland reiste. Seinen Lebensunterhalt soll sich der NSU durch Raubüberfälle finanziert haben.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Burgi
Die Opfer
Neun Männer und eine Frau soll der NSU ermordet haben. Das erste Opfer, Enver Şimşek, erlag am 11. September 2000 seinen schweren Verletzungen. Die Namen der weiteren Opfer: Abdurrahim Özudogru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç (oben, v.l.), Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat (unten, v.l.) und die Polizistin Michèle Kiesewetter (oben, r.).
Bild: picture-alliance/dpa
Bomben-Anschläge in Köln
In der überwiegend von Türken bewohnten Keupstraße explodiert am 9. Juni 2004 eine mit Nägeln gefüllte Bombe. Mehr als 20 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Bereits am 19. Januar 2001 detoniert in einem Laden in der Probsteigasse ein Sprengsatz. Ein 19-jähriges Mädchen mit iranischen Wurzeln erleidet Verbrennungen, Schnittwunden, einen Schädelbruch und geplatzte Trommelfelle.
Bild: picture-alliance/dpa
Ende einer Flucht
Am 4. November 2011 scheitert in Eisenach ein Banküberfall. Die Täter können zunächst entkommen, werden aber von der Polizei verfolgt. Kurze Zeit später werden in einem qualmenden Wohnmobil die Leichen von zwei Männern entdeckt. Die äußeren Umstände lassen darauf schließen, dass sie sich das Leben genommen haben. Es handelt sich um die mutmaßlichen NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.
Bild: picture-alliance/dpa
Das letzte Versteck
Wenige Stunden nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos explodiert in Zwickau ein Wohnhaus. Brandstifterin soll Beate Zschäpe sein. Damit will sie offenbar Spuren in der gemeinsam mit ihren Freunden genutzten Wohnung vernichten. Im Schutt der Ruine entdecken Ermittler unter anderem die Tatwaffe der NSU-Mordserie vom Typ "Ceska" und ein Bekenner-Video.
Bild: picture-alliance/dpa
Das Bekenner-Video
In einem makaberen Video mit der beliebten Trickfilm-Figur Paulchen Panther bekennt sich der NSU zu den Morden an neun Männern und an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Halit Yozgat war, wie sieben weitere Opfer, türkischer Herkunft. Da Theodorus Boularides griechische Wurzeln hatte, hat der NSU tatsächlich acht Türken erschossen. Die im Video zu sehende Zahl ist also falsch.
Bild: picture-alliance/dpa/Der Spiegel
Prozess-Auftakt
Am 6. Mai 2013 beginnt vor dem Oberlandesgericht München der NSU-Prozess. Die einzige Überlebende des mutmaßlichen Terror-Trios, Beate Zschäpe, erscheint im dunklen Hosenanzug und macht auf die meisten Beobachter einen betont selbstbewussten Eindruck. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr unter anderem vor, "in zehn Fällen heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben".
Bild: Reuters/Michael Dalder
NSU-Helfer?
Außer Beate Zschäpe sind im NSU-Prozess vier Männer als mutmaßliche Unterstützer angeklagt. Nur der ehemalige Funktionär der rechtsextremen NPD, Ralf Wohlleben (unten, r.), darf in der Berichterstattung mit ganzem Namen genannt werden. Bei André E., Carsten S. (oben, v.l.), und Holger G. (unten, l.) muss der Name aus Gründen des Persönlichkeitsrechts abgekürzt werden.
Zschäpe bricht ihr Schweigen
Am 9. Dezember 2015 passiert das Unerwartete, nachdem Beate Zschäpe zweieinhalb Jahre geschwiegen hat: Sie lässt eine Aussage verlesen, in der sie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos der Mord-Serie bezichtigt. Im Sommer hatte sie sich mit ihren Pflichtverteidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm überworfen. Seitdem wird sie zusätzlich von Hermann Borchert und Mathias Grasel verteidigt.
Bild: picture-alliance/dpa/P. Kneffel
Der V-Mann-Skandal
Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz im Umfeld des NSU? Diese Frage liegt von Anfang an wie ein Schatten über dem Prozess. Der rechtsextreme Verfassungsschutz-Spitzel (V-Mann) Tino Brandt schildert als Zeuge ausführlich, wie er seit den 1990er Jahren den "Thüringer Heimatschutz" (THS) aufbaute. In dieser Organisation radikalisierte sich das spätere NSU-Trio Zschäpe. Böhnhardt und Mundlos.
Bild: picture-alliance/dpa/Martin Schutt
Als Halit Yozgat erschossen wurde...
...war ein Beamter des Verfassungsschutzes am Tatort, einem Internetcafé in Kassel. Der V-Mann-Führer Andreas T. will nichts von dem Mord am 6. April 2006 mitbekommen haben, obwohl das Opfer im Eingangsbereich lag. Yozgats Vater Ismael schildert im NSU-Prozess auf bewegende Weise, wie er seinen sterbenden Sohn in den Armen hielt. Im Gerichtssaal hat er ein Kinder-Foto von Yozgat bei sich.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Gebert
Proteste am Rande
Demonstrationen gegen die Verstrickung staatlicher Stellen in den NSU-Komplex gibt es immer wieder. Zahlreiche Organisationen, darunter die Initiative "Keupstraße ist überall" beteiligen sich an den Aktionen. In der Kölner Keupstraße explodierte am 9. Juni 2004 eine mutmaßlich vom NSU mit Nägeln gefüllte Bombe
Bild: DW/M. Fürstenau
NSU-Untersuchungsausschüsse
Auch der Deutsche Bundestag versucht Licht ins Dunkel des NSU-Komplexes zu bringen. Im August 2013 übergibt der Vorsitzende des ersten Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy (r.), Parlamentspräsident Norbert Lammert den über 1000 Seiten dicken Abschlussbericht. Das Urteil ist eindeutig: "Staatsversagen". Später gibt es weitere Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene.
Bild: picture-alliance/dpa
Das gebrochene Versprechen
Am 23. Februar 2012 findet im Berliner Konzerthaus die zentrale Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer statt. Eine schonungslose Aufklärung der Verbrechen verspricht Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.) Semiya Şimşek (r.) und anderen Opfer-Angehörigen. Doch die sind tief enttäuscht angesichts vernichteter oder unter Verschluss gehaltener Verfassungsschutz-Akten. Ihr Verdacht: Der Staat weiß mehr.
Bild: Bundesregierung/Kugler
Bundesanwaltschaft fordert Höchsstrafe
Bundesanwalt Herbert Diemer und seine Kollegen beginnen im Sommer 2017 ihre Plädoyers. Für Beate Zschäpe fordern sie die Höchststrafe: lebenslänglich bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließende Sicherungsverwahrung. Für Ralf Wohlleben und André E. fordert die Anklage zwölf Jahre Gefängnis, Holger G. soll für fünf Jahre hinter Gitter und Carsten S. für drei.
Bild: picture-alliance/dpa/P. Kneffel
Zschäpes Alt-Verteidiger fordern Freilassung
Im April 2018 beginnen die Verteidiger-Plädoyers der Angeklagten. Beate Zschäpes erst 2015 hinzugekommenen Anwälte Hermann Borchert und Mathias Grasel beantragen für ihre Mandantin eine Strafe von maximal zehn Jahren. Ihre Alt-Verteidiger Wolfgang Stahl, Wolfgang Heer und Anja Sturm (v.r.n.l.) überraschen mit der Forderung nach Zschäpes sofortiger Entlassung aus der Untersuchungshaft.
Bild: Reuters/M. Rehle
Der Vorsitzende Richter
Manfred Götzl ist Vorsitzender Richter im NSU-Prozess. Der von ihm geführte Strafsenat am Oberlandesgericht München fällt die Urteile gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Die Meinungen über den 64-Jährigen gehen zuweilen auseinander. Einige Nebenkläger-Anwälte hätten sich manchmal eine straffere Prozess-Führung gewünscht. Insgesamt aber genießt Götzl großen Respekt.
Bild: picture-alliance/dpa/T. Hase
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Wie könnte man denn das Rad zurück drehen und Menschen aus ihrer Radikalisierung wieder herausholen?
Tatsächlich wird das nur in der praktischen Arbeit passieren. Und das passiert auch: Ganz viele tolle Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, engagierte Kirchengemeinden, Leute aus der Zivilgesellschaft engagieren sich vor Ort und schaffen es irgendwie Verständnis herzustellen und Ressentiments abzubauen, sodass ein gutes Zusammenwachsen der Gesellschaft funktioniert.
Simone Rafael ist Chefredakteurin von "Belltower.News - Netz für digitale Zivilgesellschaft", dem Internetportal der Amadeu Antonio Stiftung, die sich nach eigenen Angaben "gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus" wendet.