Ideen und ihre Wirklichkeit
10. März 2002Ein solch dichtes Bild des Altertums ist noch nie zuvor gezeichnet worden. So sehen es zumindest die Ausstellungsmacher in Berlin. Mit rund 700 Kunstwerken aus über 100 Museen in aller Welt zeichnet die Schau "Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit" die Epoche vom Ende des 5. Jahrhunderts bis 79 vor Christus nach. Eine "Sozialgeschichte der Klassik" möchte Wolf-Dieter Heilmeyer, Leiter der Antikensammlung und Chefkurator der Ausstellung, präsentieren.
Original oder Kopie ?
Der Besucher erfährt vor allem eines: das, was wir als "klassisch" bezeichnen, ist nicht selten die Kopie eines Originals. Idee und Wirklichkeit, deshalb auch der Untertitel der Ausstellung, sind nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Oft erweisen sich "klassische" Idealbilder als Rekonstruktionen des griechischen Kanons, der erstmals von Polyklet niedergeschrieben wurde.
Archäologie der Klassik
Von der "Wirklichkeit" im 5. Jh. v. Chr. ist nur wenig erhalten. Fragmente, Scherben - was in der Ausstellung zu einem ganzen Bild zusammengefügt wurde, ist Rekonstruktion, Ergebnis einer archäologischen "Schicht-Grabung", wie Heilmeyer die Neu-Präsentation der griechischen Klassik auch bezeichnet. Der Besucher erhält einige neue Puzzlesteine für sein Klassik-Bild: Neben noch nie zuvor in der Öffentlichkeit gezeigten Objekten ergänzen Alltagsgegenstände wie Werkzeuge und Mobiliar die Zeugnisse der ersten "demokratischen" Kultur.
Spektakuläre Leihgaben aus aller Welt
In den Fokus des Besucherinteresses werden zunächst die spektakulären Leihgaben gerückt, allen voran die Tyrannenmördergruppe aus Neapel. Sie gestaltet ein Motiv, das zum Gründungsmythos der griechischen Demokratie wurde. Präsentiert werden die Befreier Athens im zur Agora (Marktplatz) umgestalteten Lichthof des Gropius-Baus. Wie im Altertum soll hier ein Platz entstehen, an dem man sich trifft, um sich zu unterhalten und auszutauschen. Führungen und Begleitprogramme beginnen hier.
Erstmals vereint finden sich unter dem Glasdach des Lichthofs auch drei Amazonen, die laut Überlieferung in einem Skulpturenwettbewerb gegeneinander angetreten waren. Welche die Schönste ist, mag der Besucher für sich zu entscheiden.
Kern der Klassik
Zum Kern der Klassik wollen die Ausstellungsmacher vor allem mit der vierten der acht Abteilungen durchdringen. Sie steht unter den klassischen Begriffen "Maß, Vermessung, Akribie und Größe". Zu sehen ist "Der Speerwerfer" von Polyklet, dem bedeutendsten klassischen Bildhauer. Er hat den menschlichen Körper so vermessen, dass eine seiner Statuen zum "Kanon" werden konnte. Viele Begriffe, die wir heute ganz selbstverständlich gebrauchen, um Schönheit und Ausgewogenheit zu bezeichnen, entstammen dieser Epoche.
Eine Archäologie des Klassik-Begriffs
Neben die Produktion eines Kunstwerks und seiner Bedingungen wird die Produktion und Verbreitung eines Ideals gesetzt. Mehr als die Archäologie einer Wirklichkeit ist die Schau deshalb auch eine Archäologie des Begriffs. In den beiden letzten Abteilungen wird die lange Geschichte der Antikenrezeption skizziert - angefangen beim Klassizismus der Römer, über den Klassizismus des 19. Jh. und der Rede vom "Wahren, Schönen, Guten", die uns noch am ehesten im Ohr ist. Die Idee der Klassik ist ein Phänomen ihrer Rezeption. Der inflationär gebrauchte Begriff "Klassik" bezeichnet ein überkommenes Bild.
Dies in all seiner Komplexität deutlich zu machen ist den Ausstellungsmachern gelungen. Erstaunlich, dass man das Museum nicht mit schwerem Kopf, sondern im Gegenteil - ganz frisch und fröhlich - verlässt.
Bis zum 2. Juni ist die Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin im Martin-Gropius-Bau zu sehen.