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PolitikAsien

Ideologische (Ab)gründe der Taliban

2. November 2021

Die Taliban haben militärisch gesiegt. Ob sie auch ihre extrem konservativ-religiöse Gesellschaftsauffassung langfristig durchsetzen können, ist offen.

Russland I Konferenz mit den Taliban in Moskau
Vizeministerpräsident Abdul Salam Hanafi (l.) und Wirtschaftsminister Qari Din Mohammad Hanif auf der Moskauer Afghanistan-Konferenz Ende Oktober Bild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

Bei den Vereinten Nationen ist Afghanistan derzeit noch unter dem Namen "Islamische Republik Afghanistan" aufgeführt. Deren neue Machthaber wollen von einer Republik aber nichts wissen und haben dem Land einen international nicht anerkannten neuen Namen gegeben: "Islamisches Emirat Afghanistan". Damit ist das Land nicht nur faktisch, sondern auch der Bezeichnung nach da, wo es bereits von 1996 bis 2001 stand, nämlich unter der Herrschaft der Taliban. Bereits damals gaben sie dem Land jenen Namen, den sie heute wieder durchsetzen wollen.

Wer Afghanistan künftig international repräsentiert, ist noch ungeklärtBild: Salvatore Di Nolfi/Keystone/picture alliance

"Islamisches Emirat": Der Name verrät, wie die Taliban die Herrschaftsform des "Emirats" verstehen, nämlich als eine religiöse. "Die Interpretation des Emirats als eine religiöse Herrschaftsform ist allerdings nicht die einzig mögliche", sagt Katja Mielke, die am "Bonn International Centre for Conflict Studies" (bicc) zu Afghanistan forscht. So bezeichnet der Begriff Emirat im Arabischen ein Territorium, das unter der Herrschaft eines Emirs - Arabisch 'Amir' - steht. Der Emir kann ein religiöser Führer sein, muss das aber nicht. Ebenso gut kann er Angehöriger einer Königsfamilie sein, ein Kriegsherr oder Gouverneur. "Die Bedeutung ist vielfältig und nicht religiös gebunden", sagt Mielke.

Ursprünge in Britisch-Indien

Die Tendenz, existierende Begriffe mit einer ihnen genehmen Bedeutung aufzuladen, sei typisch für die Taliban, sagt Milad Karimi, stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster. Er erinnert an die Ursprünge der Taliban-Ideologie im sogenannten Deobandismus, der sich während der britischen Kolonialherrschaft Indiens im 19. Jahrhundert gründete. Dessen Anhänger setzten insbesondere auf Bildung: Die Muslime sollten in die Lage kommen, eine angemessene Antwort auf die politischen Umstände ihrer Zeit, eben den europäischen Kolonialismus, zu geben.

Verschleierte Afghaninnen demonstrieren ihre Unterstützung für die Taliban vor einem Hörsaal der Universität in KabulBild: Felipe Dana/AP/dpa/picture alliance

Im Jahr 1857 kam es zu einem Aufstand gegen die Briten. Nach dessen Niederschlagung praktizierten diese eine noch strengere Herrschaft. Darauf reagierte ein Teil der indischen Muslime mit der Besinnung auf eine fundamentalistische Lesart des Islam. "Sie waren überzeugt, das Heil liege religiös wie gesellschaftlich ausschließlich in einem reinen, historisch unverfälschten Islam. Darum gaben sie alle Offenheit, jeden Dialog mit anderen Religionen auf und konzentrieren sich ausschließlich auf die ihnen richtig scheinende, reine Lehre. Das ist im Kern die Geburtsstunde jener Ideologie, die anderthalb Jahrhunderte später auch die Taliban aufgriffen und bis heute weiter pflegen", erläutert Karimi im DW-Interview.

Anti-sowjetischer Widerstand und seine Folgen

Diese Lehre erhielt in den 1970er Jahren eine radikale Zuspitzung, als zahlreiche religiös motivierte Afghanen, insbesondere Paschtunen, sich gegen den 1978 ermordeten Präsidenten Mohammed Daoud Khan auflehnten und vor den afghanischen Sicherheitskräften nach Pakistan flohen. Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979 sorgte der pakistanische Präsident Zia ul Haq dafür, dass ein Großteil der von den USA zur Unterstützung der Widerstandskämpfer bereitgestellten Gelder an extremistische Gruppierungen flossen. Der durch einen Putsch an die Macht gekommene Armeechef Haq, der von 1977 bis 1988 regierte, förderte stark die Islamisierung von Pakistans Justiz und Verwaltung. Er versprach sich davon Machterhalt im Innern und Einflussmöglichkeiten nach außen, insbesondere im Nachbarland Afghanistan.

Pakistans Militärherrscher Zia-ul Haq 1980 in Paris empfangenBild: Getty Images/Keystone/Hulton Archive

Unter diesen günstigen Voraussetzungen radikalisierte sich der fundamentalistische Islam aus Teilen der Deobandi-Schule vollends und setzte sich vor allem unter den afghanischen Widerstandskämpfern, den Vorläufern der Taliban, durch. "Man muss bedenken, dass diese Leute nicht nur in irgendwelchen Schulen und Universitäten gesessen haben und theologische Studien betrieben, sondern dass sie zugleich in den Kampf gegen die Sowjetunion verwickelt waren, also in einer Kriegssituation lebten", sagt Katja Mielke.

Radikalisierung in Pakistan

In dieser Situation, gefördert durch den pakistanischen Geheimdienst, entfremdeten sich die Mudschahedin von den Traditionen ihres eigenen Landes. Diese seien in brutalen Machtkämpfen zerrieben worden, schreibt der britisch-pakistanische Journalist Ahmed Rashid in seinem Buch über die Taliban. Entstanden sei so ein ideologisches Vakuum, das die Taliban dann füllten. "Die Taliban vertraten niemanden außer sich selbst, und sie erkannten keinen Islam außer ihrem eigenen an. Doch sie hatten eine ideologische Basis, eine extreme Form des Deobandismus, der von pakistanischen islamischen Parteien in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan gepredigt wurde."

Kabuler Frauen fordern Unterstützung von der UN-Mission in AfghanistanBild: Bilal Guler/AA/picture alliance

Ähnlich sieht es Milad Karimi. Über die Jahre hätten sich die von Pakistan aus operierenden Kämpfer ihrer Heimat entfremdet. "Dabei zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede hinsichtlich der Generationen: Während die ersten nach Pakistan migirierten Kämpfer, die so genannten Mudschaheddin, noch fest mit Afghanistan, seiner Geschichte und seiner überwiegend toleranten religiösen Tradition fest verbunden waren, verloren die jüngeren diese Bindung und radikalisierten sich dementsprechend. Die damals ausgearbeitete Ideologie bildete dann das weltanschauliche Fundament der heutigen Taliban."

"Ideologisch zerklüftet"

Dieses könnte sich womöglich aber ändern, sagt Katja Mielke. "Einige Entwicklung deuten darauf hin, dass sich diese ideologisch orthodoxe Linie auflöst. Das ist nicht zuletzt eine Machtfrage. Es kommt sehr darauf an, welche Fraktionen der Taliban sich in Zukunft durchsetzen, und welche Ideologie diese dann vertreten. Im Moment ist diese Bewegung ideologisch sehr zerklüftet."

(Noch) breites Angebot in Kabuler BuchladenBild: Hoshang Hashimi/AFP

Derzeit leiden vor allem die Frauen  unter der neuen Herrschaft. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Frauen in vielen Bereichen ihre Arbeitsstellen aufgeben müssen, Afghaninnen berichten der DW, sie seien nach Pakistan geflohen, weil sie fürchteten, mit Taliban-Milizionären zwangsverheiratet zu werden. Tatsächlich geständen die Taliban den Frauen nur sehr wenige Rechte zu, sagt Milad Karimi. "Frauen gehören für sie in ein kerkerhaftes Umfeld, nämlich die vier Wände des eigenen Hauses." Dort hätten sie bestimmte Aufgaben zu erfüllen: Sie müssten Kinder gebären, den Haushalt führen und jederzeit für das sexuelle Begehren ihres Mannes bereit sein. "Diese Sicht auf Frauen ist weder religiös legitimierbar noch islamisch vertretbar."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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