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Musik

Igor Levit: "Musik ist Freiheit"

Rick Fulker
1. Oktober 2017

Er ist jung und als Pianist weltweit gefragt. Beim diesjährigen Bonner Beethovenfest trat er gleich dreimal auf. Die Deutsche Welle traf ihn nach einem Solo-Konzert in der Bonner Kreuzkirche.

Pianist Igor Levit
Bild: picture-alliance/dpa/R. Popp

Deutsche Welle: Auf Ihrem Programm standen Werke von Johann Sebastian Bach und Ferruccio Busoni (1866-1924). Letzerer hat Bach sehr verehrt und hat viele seiner Werke für Klavier transkribiert. Aber seine eigenen Kompositionen, etwa seine "Fantasia nach Johann Sebastian Bach", klingen ganz anders. Wie erklären Sie sich das?

Igor Levit: Bei Busoni ist die Freiheit ein zentraler Begriff – auch in seinen Schriften, wo es nicht nur um künstlerische Freiheit, sondern um Freiheit ganz allgemein geht. Er behauptet, dass der Mensch und die Menschheit mit der Freiheit eigentlich nicht umgehen können. Und wenn man bedenkt, was heute in der Welt los ist, könnte man zu dem Schluss kommen, dass er Recht hat.

Er schreibt aber auch, dass die Musik frei ist und nach Freiheit zielt. Und dass der Mensch versucht, sie immer wieder in Schubladen zu stecken, ihr einen Namen zu geben und in Formen pressen will – und auch Gebote und Verbote ausspricht, wie sie interpretiert werden soll.

Busoni aber sagt dazu: Musik ist immateriell. Wir können sie nicht anfassen, sie auch nicht besitzen. Sie existiert zwischen den Menschen - im Grunde in der Luft. Und keiner soll dann sagen: "So macht man es." Jeder, der die Musik erlebt oder sie macht, hat seinen eigenen Zugang. Es gibt keine Grenzen. Also ich glaube, dass Busoni das musikalische Material des von ihm so hoch verehrten und bewunderten Johann Sebastian Bach nahm und sich befreite. Und das finde ich sehr berührend.

Levit glaubt an einen "schönen künstlerischen Anarchismus"Bild: Beethovenfest Bonn

Der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe sagte sinngemäß: Die Freiheit existiert nur innerhalb von Grenzen - und auch die Musik von Busoni hat ihre Strukturen, oder?

Ja, aber er bringt eine gewisse Utopie zum Ausdruck. Seine "Fantasia contrappuntistica" ist der musikalische Ausdruck einer Art Utopie.

Jedes Musikwerk hat eine Struktur – bis vielleicht auf 4:33 von John Cage (Anmerkung der Redaktion: In diesem Werk spielt der Pianist nicht, es gibt nur Stille für die Dauer von vier Minuten und 33 Sekunden). Deshalb halte ich das Stück für einen der revolutionärsten Schritte im künstlerischen Leben des 20. Jahrhunderts. Es befreit die Musik von der Wahrnehmung durch die Interpretation und gibt ihr eine echte Demokratie, weil jeder, der zuhört, das Geschehen für sich deutet. Da gibt es keine Form als solche.

Aber für jede andere Musik ist die Form unglaublich wichtig. Busoni schreibt sinngemäß: Die Vorstellungskraft des Menschen ist unendlich. Und er führt fort, dass, wenn ihm ein Musikwerk vorschwebt, es keine Grenzen gibt. Jedoch in dem Augenblick, wenn er den Stift in die Hand nimmt und diese unbegrenzte Fantasie niederzuschreiben beginnt, setzt er sich Grenzen auf. Das Notenblatt ist also weitaus begrenzter als die Fantasie. Und dann sagt er: Wie kann ein Interpret denn überhaupt denken, dass das, was er auf dem Papier vorfindet, das letzte Wort ist? Wie gesagt, bei Busoni geht es sehr um die Freiheit, und ich fühle mich diesem Ansatz sehr nah.

Was machen Sie, um ihren Kopf für eine Aufführung frei zu machen?

Ich bringe diese Freiheit immer mit. Ich glaube an eine schöne Art des künstlerischen Anarchismus.

Sie haben auch ein Stück aus Bachs "Die Kunst der Fuge" gespielt. Ist das Werk ebenfalls eine Art Utopie? Schließlich schrieb Bach dieses hoch abstrakte Werk aus keinem konkreten Anlass, und es ist sogar unklar, für welches Instrument er es vorgesehen hat.

Beim Spiel denkt er an Menschen, die er kenntBild: picture-alliance/dpa

Ich glaube, dass jede Musik, die man spielt, eine Utopie darstellt.

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie Bach spielten? Oder versuchen Sie beim Spiel Ihren Kopf von jeglichen Gedanken frei zu halten?

Während des Spiels denke ich meist an Menschen, die ich kenne. Darum wird es in jenem Moment gegangen sein. Aber ganz ehrlich gesagt: Ich erinnere mich im Nachhinein nicht daran, und ich will das auch nicht. Es ist vorbei. Ich bin ein Mann des Hier und Jetzt, und noch viel mehr der Zukunft. Es geht nicht darum, dass ich stolz darauf bin. Es ist einfach eine Tatsache. 

Mit Igor Levit sprach Rick Fulker.

In seiner Geburtsstadt Nischni Nowgorod erhielt Igor Levit mit drei Jahren Klavierunterricht und trat bereits als Vierjähriger auf. Vier Jahre später zog er mit seiner Familie nach Hannover. Nach einem einjährigen Studium am Salzburger Mozarteum studierte er an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover und schloss 2010 sein Studium mit der höchsten Punktzahl in der Geschichte der Hochschule ab. Seit 2000 konzertiert Levit in Europa, den USA und Israel, und gilt mit 30 Jahren als einer der gefragtesten Pianisten weltweit.

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