Ilija Trojanow: "Offene Wunde der Geschichte"
2. November 2016Deutsche Welle: Sie stellen zurzeit in Bulgarien Ihren neuen Roman "Macht und Widerstand" (dt. Ausgabe 2015) vor, in dem es um die kommunistische Vergangenheit des Landes geht. Ist das Thema immer noch aktuell für Bulgarien? Wird das Land immer noch von dieser Vergangenheit beeinflusst?
Ilija Trojanow: Das Thema ist nicht nur in Bulgarien aktuell, es ist das entscheidende Thema für alle Länder des früheren Ostblocks. Wir verbringen ja in den letzten Jahren sehr viel Zeit damit, die russische Politik zu diskutieren. Und das russische Regime, die ganzen Verwerfungen in diesem Land hängen ja direkt mit der kommunistischen Vergangenheit und mit der so genannten Wendezeit zusammen. Wenn ich mit Kollegen rede, sei es aus Ungarn oder Polen, stellen wir fest, dass es unglaublich viele Gemeinsamkeiten gibt und dass diese offene Wunde weiterhin ein prägendes, wenn nicht ein zentrales, existenzielles Merkmal dieser Gesellschaften ist.
Sie haben Polen und Ungarn erwähnt. Hängt die spürbare Renationalisierung der Politik in postkommunistischen Ländern wie Polen und Ungarn auch mit der kommunistischen Vergangenheit zusammen?
Renationalisierung ist schon fast euphemistisch ausgedrückt. Man muss verstehen, dass es da eine Rücknahme von zivilgesellschaftlichen und demokratischen Fortschritten gibt. Das hängt natürlich damit zusammen, dass es in der Bevölkerung keine Klarheit gibt über die unglaublichen Verwüstungen und Zerstörungen einer Diktatur. Wenn man die vergangene Diktatur verklärt, dann ist es umso einfacher, wieder in eine neue Diktatur hineinzuschlittern. Und ich glaube, dass dieser "Ost-West" und "Links-Rechts"-Kompass uns da gar nicht hilft. Sondern es geht einfach darum, was für eine demokratische Teilhabe die Bevölkerung hat, wie sehr ihre Instinkte für Freiheit oder für soziale Gerechtigkeit ausgeprägt sind und inwieweit Untertanengeist und Apathie vorherrschen. Und letzeres hängt natürlich damit zusammen, dass es Verkrustungen gibt, die eigentlich eine Kontinuität von 1945 bis heute beschreiben.
Also, aus Ihrer Sicht funktioniert der bipolare Kompass nicht mehr?
Wenn man selber als Publizist tätig ist, muss man feststellen, dass dieses Denken in Dichotomien wieder stärker wird. Aber wenn wir überhaupt an so etwas wie freie Meinungsäußerung glauben, dann müssen wir natürlich an Pluralität und differenzierte Argumentation glauben. Und wenn man feststellen muss, dass jene, die die öffentliche Meinung dominieren, mit möglichst simplen Gegenüberstellungen operieren, dann ist die öffentliche Meinung per se als diskursiver demokratischer Ort in Gefahr.
Welche Rolle könnten vor diesem Hintergrund westliche Medien - auch die DW - in dieser für Europa krisenhafte Situation spielen? In Bulgarien zum Beispiel, einem Land, dass sich im Spannungsfeld zwischen EU und Nato einerseits, sowie Russland und der Türkei andererseits befindet?
Was wir unglaublich brauchen - jetzt mehr denn je - sind Foren, sind offene Flächen des Diskurses. Wenn ich mit Kollegen aus diesen Ländern rede, höre ich immer wieder, dass es eine direkte oder indirekte Zensur gibt, die natürlich die Gestaltungsmöglichkeiten und die Möglichkeit, sich überhaupt zu Wort zu melden, einschränkt. Es werden auch viele Themen tabuisiert in diesen Ländern. Zum Beispiel wird in Russland die kommunistische Vergangenheit völlig tabuisiert, es gibt jetzt eine Renaissance von nationalen Figuren wie Stalin. Auch in der Türkei gibt es überhaupt keine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen imperialen Geschichte. Das ist wiederum etwas, das man aus bulgarischer Sicht feststellen kann. Neulich hat Erdogan sogar eine Landkarte der "Großtürkei" publizieren lassen, die nicht nur Mossul, sondern auch weite Teile Europas umfasst. Das sind alles Projektionen und nationalistische Ambitionen, die ganz eng damit zusammenhängen, was für ein historisches Narrativ man kundtut. Und da es in diesen Ländern zunehmend ein staatlich verordnetes Narrativ gibt, können natürlich Medien aus anderen Ländern dieses unterwandern.
Ilija Trojanow (51) ist ein deutscher Schriftsteller bulgarischer Herkunft. Seine Familie floh 1971 aus Bulgarien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. Weltbekannt wurde Trojanow 2006 mit seinem Roman "Der Weltensammler".
Das Gespräch führte Alexander Andreev.