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Illegale Drogen: Die unsichtbaren Toten

20. Juli 2022

Seit Jahren steigt auch in Deutschland die Zahl der Menschen, die an illegalen Drogen wie Heroin sterben. Drogenkonsumräume sollen helfen, die Gefahren wenigstens etwas zu mindern. Von Lisa Hänel, Hamburg.

Hamburg Drogenkonsumraum Abrigado
Löffel, Spritze, Pflaster: der Konsum illegaler Drogen wird in der Hamburger Einrichtung begleitetBild: Lisa Hänel/DW

Gonzo lässt seinen Blick kurz über die weiße Tapete schweifen. Er ist mager, gut gekleidet, den Kapuzenpulli hat er ordentlich hochgezogen. Gonzo wählt seine Worte bedächtig mit dem typisch weichen Hamburger Schnack. "Mit den Namen von den Leuten, die gestorben sind, die ich kannte, kannst du hier schon die Wand tapezieren." Seit er 18 ist, nimmt Gonzo Drogen. Heute ist er 55. Seine Augen sind leicht glasig, aber seine Antworten klar.

Er sitzt im Raum seines Sozialarbeiters in einem sogenannten Drogenkonsumraum in Hamburg. Der Name der Einrichtung: Abrigado, was auf Spanisch so viel heißt wie "geschützt". Hier können Menschen, die Drogen gebrauchen, in einer klinisch sauberen Atmosphäre mit frischen Spritzen ihre Drogen einnehmen, meist Heroin und Kokain.

Außerdem können sie sich duschen, von einem Sanitäter Wunden behandeln lassen, im angegliederten Café etwas essen und trinken und - wenn sie wollen - auch mit den Sozialarbeitern einen Termin ausmachen, um sich beispielsweise bei Behördengängen unterstützen zu lassen.

Die Sozialarbeiter Herman und Oli bereiten im sogenannten Druckraum alles für die Eröffnung vor. Ab mittags dürfen hier täglich vier Menschen gleichzeitig ihre mitgebrachten Drogen einnehmen. Oli wäscht die Löffel ab, welche die ganze Nacht in einer Desinfektionslösung gebadet haben. Herman legt eingepackte Spritzen, Alkoholtupfer und Pflaster bereit.

Sozialarbeiter Oli (links) und Herman im Druckraum im Abrigado in HamburgBild: Lisa Hänel/DW

Nach einer kurzen Besprechung mit dem restlichen Team werden um 13.30 Uhr die Türen geöffnet. Draußen im Hof haben schon Dutzende Menschen gewartet. Die ersten verschwinden eilig im Druckraum. Die meisten kommen regelmäßig und kennen die Regeln: Maske aufsetzen, in eine Liste eintragen und, wenn der Druckraum belegt ist, geduldig warten.

Gonzo gehört auch zu den ersten an diesem Tag. Seit 28 Jahren, seit der Eröffnung des Abrigado, kommt er hierher und ist sicher: "Ich glaube, ich wäre schon tot, wenn es den Laden hier nicht gäbe. Sonst haben wir irgendwo auf dem Hinterhof oder in irgendeiner Junkie-Höhle aufgekocht, wo eh' alles dreckig ist. Dann hat sich keiner die Hände gewaschen und desinfiziert. Hier achten die Leute darauf, dass man das macht."

Immer mehr Drogentote

Im Jahr 2021 verzeichnete Deutschland im vierten Jahr in Folge einen Anstieg der Zahl der an illegalen Drogen gestorbenen Menschen: 1826 Männer und Frauen. Ursache dafür war in den meisten Fällen Heroin oder andere Opioide. Der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert, kommentierte die Entwicklung so: "Diese Zahlen machen mich traurig. Sie sind schockierend und zeigen, dass ein 'Weiter so' in der deutschen Drogenpolitik nicht möglich ist."

Es ist ein Problem, das weit über Deutschland hinaus geht. In den USA gibt es seit Jahren eine Opioid-Drogenkrise, die jede Dimension sprengt. Alle fünf Minuten kommt es dort zu einer tödlichen Überdosis. Aber auch in Deutschland sinken die Zahlen nicht - im Gegenteil.

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Im Abrigado in Hamburg war es in den ersten Frühlingsmonaten im März und April besonders schlimm. Für jeden verstorbenen Gast, wie die Drogenkonsumenten hier genannt werden, legen die Sozialarbeiter ein Kondolenzbuch aus. "Wir sind gar nicht dazu gekommen, es wegzuräumen", sagt Oli. "Das war wirklich heftig", ergänzt Herman.

In einem Kondolenzbuch schreiben die Gäste letzte Botschaften an VerstorbeneBild: Lisa Hänel/DW

Gerade stecken die Sozialarbeiter mitten in den Vorbereitungen für den Internationalen Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende, der jedes Jahr am 21. Juli begangen wird. Eine Trauerrednerin wird kommen. Und die Gäste und Mitarbeiter legen Steine aus mit den Namen der Verstorbenen.

Für Notfälle gewappnet

In den Räumen des Abrigado selbst ist bisher niemand gestorben, bislang konnten alle Notfälle durch routinierte Abläufe und Vor-Ort-Maßnahmen wie Pulsmesser und Beatmungsgerät entschärft werden. "Die ersten Notfälle, die ich erlebt habe, haben mich noch an meine Grenze geführt", sagt Herman. Inzwischen sei aber eine gewisse Abgeklärtheit eingetreten. "Man weiß damit umzugehen, man hat es erlebt und man findet eine Lösung."

Sozialarbeiter Oli mit einem Beatmungsgerät für den NotfallBild: Lisa Hänel/DW

Die Todesfälle aber, die sie außerhalb der Einrichtung nicht verhindern können, nehmen Oli und Herman mit. Oli erinnert sich an seinen ersten Gast, den er als ausgebildeter Sozialarbeiter betreut hat und der dann starb. "Das hat mich schon auch ordentlich mitgenommen, das weiß ich noch."

Sein Kollege Herman beschreibt es so: "Aus einem Menschen, mit dem man hier fast täglich zu tun hatte, wird dann ein Aktenzeichen." Denn häufig erfahren die Sozialarbeiter nur über andere Gäste von dem Ableben und nicht einmal, woran die Menschen verstorben und wo sie begraben sind.

Eine andere Drogenpolitik?

Wenn es um Drogentote geht, lautet häufig der Vorwurf, dass eine strenge Drogenpolitik zu mehr Drogentoten führe. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie jüngst auch ein Faktencheck des Bayerischen Rundfunks zeigte. Mehrere Experten und Expertinnen bescheinigten, dass die Rechnung strenge Drogengesetze gleich mehr Drogentote so nicht stimmt. Allerdings können indirekt liberalere Gesetze und niedrigschwellige Hilfsangebote Tote verhindern.

Der Suchtforscher Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung in Frankfurt, lehrt und forscht seit Jahrzehnten zu den Themen Suchtprävention, Gesundheit und Suchtkrankenhilfe. Er ist Anhänger einer akzeptierenden Drogenpolitik, also einer Politik, die beispielsweise Drogenkonsum und Eigengebrauch nicht kriminalisiert.

Cannabis vom Staat

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"Wir haben auf der einen Seite eine sehr permissive Politik gegenüber Alkohol und Tabak, sehr gestattend und sehr liberal, ich würde sagen, sehr unreguliert. Und auf der anderen Seite sind wir gegenüber illegalen Drogen sehr repressiv. Diese Gespaltenheit kennzeichnet die deutsche Drogenpolitik", sagt Stöver der DW.

Während Drogenkonsumenten für kleine Mengen Cannabis etwa verfolgt und belangt werden, gebe es keine Strategie gegen Volksdrogen wie Tabak und Alkohol. "Jährlich haben wir 127.000 Drogentote durch Tabak, etwa 74.000 Drogentote durch Alkohol. Drogentote sind eben auch die Menschen, die vorzeitig an den Folgen ihres riskanten Tabakkonsums versterben oder eben durch Alkohol", sagt Stöver.

Dennoch scheint sich in Deutschland ein Wandel anzubahnen. Cannabis soll legalisiert werden. Modellprojekte zum Gebrauch von Naloxon, einem Nasenspray, das eine Heroin-Überdosis sofort beendet, werden getestet. Auch Drug Checking, die Überprüfung mitgebrachter Drogen auf deren Reinheitsgehalt, wird in Drogenkonsumräumen getestet.

24 dieser Drogenkonsumräume gibt es in Deutschland, vor allem in größeren StädtenBild: Lisa Hänel/DW

Deutschland scheint sich unter der neuen Bundesregierung einer Drogenpolitik zu öffnen, die wegrückt von der reinen Kriminalisierung von Drogenkonsum. Konservative Politiker von CDU und CSU sehen das allerdings kritisch, betonen die Gefahr auch von Cannabis, befürchten einen Dammbruch und eine Legalisierung auch härterer Drogen.

Gedenktag soll Erinnerungen schaffen

Die Sozialarbeiter im Abrigado begrüßen den Kurswechsel der Politik. "Ich bin da optimistisch", sagt Oli, wenn er auch kritisiert, dass Einrichtungen wie seine oft um die Finanzierung bangen müssen und er noch viel Potential zur Verbesserung sieht.

Im Abrigado agieren sie bereits akzeptanzorientiert, indem sie nicht versuchen, die Gäste des Konsumraumes dazu zu bringen, ein Leben ohne Drogen zu führen. Und falls jemand an einer Überdosis oder wegen Langzeitfolgen aus dem Leben scheidet, sehen die Mitarbeiter das nicht als Versäumnis, den Menschen rechtzeitig von den Drogen weggebracht zu haben: "Wenn ein Mensch stirbt, egal ob er Drogen gebraucht hat oder nicht, ist das erst einmal eine traurige Geschichte, weil jemand gestorben und von uns gegangen ist. Und ich glaube, das sollte der erste Impuls sein dabei", sagt Oli.

Dennoch merken er und Herman es schon, dass ein Bewusstsein bei den Gästen vorhanden ist, wenn sie wieder im Abrigado das Kondolenzbuch auslegen. Dafür, dass ihr Lebensstil einen frühen Tod bedeuten kann. Das ist auch Gonzo bewusst, wenn um ihn herum Menschen sterben, die er jahrelang kannte.

"Ich weiß, dass ich vermutlich keine 90 werde", sagt er. Den Gedenktag will er auch er dazu nutzen, an seine verstorbenen Freunde zu erinnern. Erst im April hat er einen langjährigen Weggefährten tot im Bett gefunden. Die genaue Todesursache kennt er bis heute nicht - und auch nicht, wo er begraben liegt.

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