Im Auge des Shitstorm
25. April 2013Wenn der Star des Lieblingsvereins zur Konkurrenz wechselt, kennen manche Fußballfans offenbar keinen Spaß. Diese Erfahrung musste jetzt auch Mario Götze machen. Als am Dienstag bekannt wurde, dass der Offensivspieler von Borussia Dortmund zum Rekordmeister Bayern München wechselt, brach ein "Shitstorm" los, ein Sturm der Empörung im Internet. Innerhalb kürzester Zeit füllte sich Götzes Facebook-Seite mit erbosten Kommentaren von Usern - darunter unzählige geschmacklose Beleidigungen. Er sei ein "Judas" und ein "Verräter", um nur die harmlosesten zu zitieren.
Götzes Geschichte ist kein Einzelfall. Ob Politiker oder Popstar - so mancher Prominente musste bereits einen Shitstorm über sich ergehen lassen. Auch auf Firmen und Institutionen können Online-Verbalattacken einprasseln, was nicht zuletzt zu einem Imageschaden führen kann.
"Man steht plötzlich an einem elektronischen Pranger, das wird vielen nicht gefallen", sagt Uwe Kammann, Leiter des Grimme-Instituts in Marl, das sich mit Fragen der Medienkultur befasst. "Wenn man plötzlich 50 bis 60.000 Negativmeldungen hat, die auf eine eigene Äußerung zurückgehen, macht das dann schon zu schaffen." Insbesondere wenn der elektronische Sturm der Entrüstung auch noch seinen Widerhall in klassischen Medien findet. Berichten erst Zeitungen, Fernsehen oder Radio darüber, dann ist ein Shitstorm "quasi geadelt", wie es Grimme-Chef Kammann ausdrückt.
Verantwortung der Medien
Experten Sprechen von "viralen Phänomenen", wenn sich Themen wie bei einer Virusepidemie rasend schnell via Whatsapp, Facebook und Twitter verbreiten. Print- und Online-Medien, Radio und Fernsehen werden dadurch vor neue Herausforderungen gestellt - insbesondere wenn sie die sozialen Netzwerke als Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Publikums fürchten. Doch die Rolle der klassischen Medien bleibt eigentlich dieselbe wie schon immer, sagt Uwe Kammann: "Sie können verstärken, beschleunigen, aber sie können sicher auch dämpfend wirken, indem sie etwas nicht wahrnehmen."
Der mediale Ritterschlag durch echte Schlagzeilen ist allerdings in den wenigsten Fällen das entscheidende Motiv für Internetuser, einen Shitstorm auszulösen. Meistens gehe es den Schreibern darum, spontan ihren Unmut kundzutun, sagt Medienwissenschaftlerin Christina Schumann von der TU Ilmenau: Dinge, über die man sich früher im stillen Kämmerlein geärgert habe, würden heute bereitwillig der Öffentlichkeit präsentiert: "Und wenn ich genau diesen Nerv treffe, dass viele andere diese Erfahrung auch gemacht haben, dann ist das schon ein Gefühl von Gemeinschaft." Und von Macht, ergänzt die Wissenschaftlerin. Denn durch das Internet hätten die Schreiber die Möglichkeit, sich sehr weitreichend Gehör zu verschaffen.
Im Schutz der Anonymität
Der Volkszorn konnte auch schon früher, im nicht-digitalen Zeitalter losbrechen. Doch mit dem "Web 2.0" sind die Hürden viel niedriger, bei einem "Sturm der Entrüstung" dabei zu sein: Mit einem Klick ist ein Text verschickt und für alle Welt in sozialen Netzwerken sichtbar. Hinzu kommt, dass sich die Nachrichten dort rasend schnell und ungefiltert weiterverbreiten können - ohne das es ein Korrektiv gibt, sagt Christina Schumann: "Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, kann es sein, dass der mir Widerworte gibt und diskutiert." Außerdem biete das Internet die Möglichkeit, so die Ilmenauer Medienwissenschaftlerin, im Schutz der Anonymität oder unter Pseudonym zu schreiben, was die Hemmschwelle für Schmähbeiträge weiter senkt.
Für die Medienberichterstattung sind solche Shitstorms interessant, weil sie das Augenmerk auf möglicherweise brisante Missstände lenken könnten, sagt Schumann. Doch repräsentativ sind sie auf keinen Fall: "Es kann sein, dass es nur zwei Prozent sind, die sich äußern - aber die dann besonders stark." Redaktionen sind also gut beraten, die aufbrausende Meinungsschwemme zu bestimmten Themen im Netz besonders kritisch zu prüfen.
Augen zu und durch
Über die Auswirkungen solcher Shitstorms, die nicht durch klassische Medien weiterverbreitet werden, ist noch nicht viel bekannt. Grimme-Institutsleiter Kammann hält die Wirkung für eher überschaubar: "Ich weiß nicht, wer es überhaupt liest. Es kann ja sein, dass die größte Befriedigung darin besteht, etwas zu schreiben, dabei zu sein."
Das Grimme-Institut selbst ist auch schon einmal Opfer eines - wenn auch kleinen - Empörungssturms geworden, erzählt Kammann. Als sie die Ekel-und-Klamauk-Sendung "RTL-Dschungelcamp" für den aktuellen Grimme-Preis nominierten, hätten sie Hunderte empörter Zuschriften bekommen, per Mail, aber auch per Brief. Vom "Untergang der Qualitätsbewertung" war die Rede. Die Grimme-Juroren reagierten so, wie Uwe Kammann es auch allen anderen empfiehlt, die zum Ziel einer solchen Kampagne werden: "Wer betroffen ist, kann sagen 'Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt?'" Denn die Erfahrung zeige: Ein Shitstorm ist laut, ungemütlich - aber meistens auch ganz schnell wieder vorbei.