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Glaube

Im Grunde

15. Mai 2023

Lebensgeschichten verstehen, die eigene und die der anderen, heißt erkennen, was von Grund auf in ihnen zählt. Sturm und Stille - alles was ist, hat seinen Grund und will münden in einem Leben, das nicht vergeht.

Blick auf Meer und Küste
Bild: Annette Schavan

In der Regel plätschert das Leben an der Oberfläche dahin, alltäglich, banal. Nur manchmal – da passiert etwas, etwas Großes, ein Sturm braust auf, eine Riesenwelle tobt, der Unfall, eine Geburt, eine plötzliche Liebe und natürlich auch der Tod.

Das Große, das geschieht, beginnt oft im Kleinen. Aus dem Grund steigt etwas auf. Zeigt sich, zieht sich wieder zurück, will gesehen werden und doch auch verborgen bleiben.

Merkwürdig, denke ich, was soll dieses plötzliche Erschrecken meiner Freundin, als sie unvermutet hinten im Schrank ihrer Großmutter eine einzelne Kaffeetasse entdeckt? Sie fährt zusammen, wird ganz blass und zittert. Ihre aggressive Abwehr überrascht mich, handelt es sich bei diesem Tässchen doch um einen völlig harmlosen Gegenstand. Was ist für sie daran so bedrohlich? Es ist nicht die Kaffeetasse, die meine Freundin verstört. Es ist die Erinnerung an einen Sonntagnachmittag, das Familientreffen bei der Großmutter, der Onkel, der sich nicht oft blicken lässt, den sie aber als fernen Helden vergöttert. Sie weiß nicht mehr, was der Auslöser war, ist noch ein kleines Mädchen. Aber dass etwas geschah, etwas Schlimmes, das weiß sie genau. Das schrecklich laute Gebrüll, der Schrei, der verschmutzte Teppich, das zerbrochene Geschirr.

Angefangen hat es mit der Erzählung der Tante. Sie hat in unserer gemeinsamen Heimatstadt die berühmt-berüchtigte „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Institutes für Sozialforschung besucht, die der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ endgültig ein Ende machte. Fotos zeigen deutsche Soldaten, die seit den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges Furchtbares in den überfallenen Ländern Osteuropas taten, zeigt den Terror eines menschenverachtenden Systems, Gedemütigte, Gefolterte, Tote. Die Tante erzählt davon, sie hat sie gesehen, Täter und Opfer nebeneinander. Der Onkel erstarrt, dann rastet er aus, tobt, schimpft, wirft das Geschirr an die Wand, rennt aus dem Haus. Er war Soldat in diesem Krieg. „Alles Lüge, “ schreit er, „wir haben nur unsere Pflicht getan, Schluss und Aus.“ Die kindliche Erinnerung versinkt, aber das Gefühl der Bedrohung bleibt, jahrzehntelang.

Die nette, kleine Kaffeetasse ist das letzte Exemplar aus dem Geschirr der Großmutter; hinten im Schrank lange übersehen, kommt sie ans Licht, als die Wohnung der Oma aufgelöst werden muss. Bei meiner Freundin ist alles wieder da. Spitze, bohrende Fragen tauchen auf: Was war damals eigentlich los? Was hat der Onkel im Krieg gemacht? Hat er auch gemordet? War er Täter, Opfer, beides?

Aus dem Grund steigt auf, was angeschaut werden muss, soll meine Freundin verstehen, warum ihre Familie ist, wie sie ist. Sie will wissen, woher das Gefühl der Bedrohung kommt, wenn sie Dinge tun soll, die sie nicht tun will. Warum quält sie diese Aggressivität, sobald sie Menschen begegnet, die „aus dem Osten“ kommen, eine slawische Sprache sprechen? Sie muss der Sache auf den Grund gehen, das weiß sie sicher. Es darf nicht wieder versinken, was ihre Seele zutiefst verstört.

Auf dem Weg zu neuen Ufern kommt ihr völlig unerwartet ein unsichtbarer Begleiter zu Hilfe, gibt Schutz, ermutigt und bestärkt. Meine Freundin ist Christin, glaubt an einen Gott, der da ist und der das Leben will. Sie vertraut darauf: Ihr Gott geht jeder Sache auf den Grund, weil er nur dort den Menschen findet, der keine Perspektive mehr hat, der heruntergedrückt wird in den Schmutz seiner Schuld. Von hierher, vom Ende her, richtet er Menschen wieder auf und lässt sie in ein neues Land schauen, in sein Land, in dem Schuld Schuld bleibt, aber verwandelt wird in Verantwortung.

Meine Freundin hat nie herausfinden können, was ihr Onkel getan oder was er unterlassen hat, wo er im Krieg war, wie er sich eingelassen oder sich entzogen hat. Sie besuchte sein Grab, nahm die nette, kleine Kaffeetasse mit. Hielt sie mit beiden Händen hoch wie eine Opferschale, ließ sie los und fühlte ihr Herz frei werden. Die Scherben der Tasse bewahrt sie auf, bis heute.

Frei werden vom Grund her, lernen mit den Scherben des Lebens zu leben und wissen: Es wird nichts gut, was nicht mehr gut werden kann. Aber es gibt eine unbegreifliche Liebe, die Halt gibt, wenn ich rufe, von ganz unten, aus der Tiefe und mich zu neuen Ufern führt, grundlos.

 

Aurelia Spendel OP, Dominikanerin, Dr. theol., arbeitet in der Geistlichen Begleitung, Autorin.