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PolitikNahost

"Im Nahen Osten ist AIDS ein Tabu"

Kersten Knipp | Imane Mellouk
1. Dezember 2020

Der Kampf gegen AIDS macht in vielen arabischen Ländern Fortschritte. Mittlerweile ist die soziale Ausgrenzung für HIV-Patienten oft schmerzhafter als die körperlichen Symptome. Doch Corona erschwert die Behandlung.

Welt-AIDS-Tag
Solidarität am Welt-AIDS-TagBild: picture-alliance/Pacific Press/S. Paul

Eine Mutter, die ihr Kind nicht stillen kann, weil sie HIV-infiziert ist. Und die auch kein Geld für Babynahrung hat. Es sind Notlagen wie diese, über die sich HIV-positive Personen auf der arabischen Webseite "Ahki" ("Ich spreche") austauschen.

Es zeigt sich: Für viele mit dem Immunschwäche-Virus Infizierte ist AIDS nicht nur eine tödliche Krankheit. Die Infektion bringt auch katastrophale Folgen für die Angehörigen mit sich.

Sie habe sich bereits vor längerer Zeit infiziert, traue aber nicht, sich behandeln zu lassen, erzählt eine andere Frau: Sie fürchte die soziale Ausgrenzung. Als sie sich kurz nach der Infektion einigen Freunden anvertraut habe, hätten sich alle "von mir abgewandt."

In weiten Teilen der arabischen Welt gilt eine HIV-Infektion immer noch als Schande. "In vielen Ländern der Region, auch im Libanon gibt es immer noch Missverständnisse oder Vorurteile in Bezug auf Menschen, die mit HIV leben", sagt Alaa (Name von der Redaktion geändert), der seit mehreren Jahren HIV-positiv ist, im DW-Gespräch.

"Ich möchte dazu beitragen, diese Mentalität zu ändern. Ich möchte dies allerdings nicht tun, wenn mich das meinen Ruf in der Gesellschaft kostet. Menschen fühlen sich mit Dingen unwohl, die sie nicht verstehen. Selbst in den Medien ist das Thema fast ein Tabu."

Sumaya aus Marokko: "Durch meine Mutter habe ich gelernt, meine Krankheit anzunehmen und damit zu leben"Bild: DW/I. Talbi

Soziales Stigma

Er würde seine Geschichte gerne bekannt machen, sagt Alaa, aber leider könne er das nicht. "Ich mache mir immer noch Sorgen, dass die Leute das nicht verstehen würden. Selbst wenn ich eine einfache Blutuntersuchung mache, frage ich mich immer: Weiß die Krankenschwester über meinen Status Bescheid? Kann sie es irgendwie wissen?"

Allerdings gebe es auch Anzeichen einer gewissen Veränderung, sagt Alaa. So würden ihn seine Freunde unterstützen. "Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft - für eine bessere Zukunft."

Alaa arbeit mit der Hilfsorganisation "Soins Infirmiers et développement communautaire" (SIDC) zusammen. Diese setzt sich für die Unterstützung HIV-infizierter Personen ein und kämpft gegen die Stigmatisierung der Betroffenen.

Laut SIDC-Direktorin Nadja Badran hat sich die Einstellung der libanesischen Gesellschaft gegenüber AIDS in den vergangenen 30 Jahren nicht sonderlich geändert. "Es gibt zwar hie und da eine etwas größere Toleranz, aber insgesamt überwiegt eine negative Haltung."

Aufklärung an der Hauswand: Straßengraffiti in Beirut durchbrechen bewusst gesellschaftliche TabusBild: DW

Kostenlose Medikamente

Diese Haltung mache ihm am meisten zu schaffen, sagt Alaa. HIV bedeute nicht mehr automatisch ein Todesurteil. "AIDS ist inzwischen keine medizinische, sondern eine gesellschaftliche Krankheit geworden", sagt er. Darum habe er seiner Familie auch nie davon erzählt.

Jenseits der persönlichen Probleme stoßen HIV-Positive auf weitere Schwierigkeiten. "Viele bemühen sich vergeblich um einen Arbeitsplatz", weiß Nadja Badran. Selbst in der professionellen Hilfe für HIV-Erkrankte gebe es Vorbehalte. "Hinzu kommt, dass die meisten Erkrankungen auf Homosexualität, Prostitution oder Drogenabhängigkeit zurückgehen. Auch dafür zeigt die Gesellschaft nur geringe Toleranz."

Im Libanon unterstützt das nationale Gesundheitsprogramm die Infizierten in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation. Dies geschieht zum Beispiel durch die Ausgabe kostenloser Medikamente.

"Die Versorgung hat sogar nach der Explosion im Beiruter Hafen im August dieses Jahres gut funktioniert", sagt Nadja Badran. Allerdings gebe es weiterhin Mängel. So müssten Personen, die eine HIV-Infektion vermuten und sich testen lassen wollen, die Kosten selber tragen. "Viele haben dafür aber kein Geld. Hilfsorganisationen wie unsere unterstützen sie dann."

Drogen und Prostitution

In der gesamten Region Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) waren im Jahr 2019 laut der internationalen Hilfsorganisation Avert rund 240.000 Personen mit dem HI-Virus infiziert. Rund 20.000 Personen starben in jenem Jahr an der Krankheit.

Nachdem die Infektionsrate über Jahre hinweg gestiegen war, hat sie sich vor allem dank zahlreicher Aufklärungskampagnen seit 2015 stabilisiert. Die meisten Infektionen ergeben sich seit geraumer Zeit über den Drogenkonsum.

Die zweitgrößte Infektionsquelle ist Prostitution. Als ebenfalls gefährdete Gruppe gelten auch Arbeitsmigranten - insbesondere jene, die sich in den Golfstaaten aufhalten.

Unterwegs: Mady Cherafeddine von der NGO Helem fährt nachts durch Beirut und bietet mobile HIV-Tests an. Die Organisation setzt sich für Schwule im Libanon ein.Bild: DW

HIV und Corona

Corona hat den Kampf gegen AIDS in der Region erheblich erschwert. "Aufgrund der Quarantäne-Maßnahmen mussten wir unsere Initiativen zum medizinischen, psychologischen und sozialen Schutz leider einschränken", sagt Fatihah Ghufran, Koordinatorin eines Projekts der African Association to Fight AIDS in Marokko, im DW-Gespräch. Dringend benötigte Medikamente konnten nur noch per Post oder mithilfe von Personen aus der unmittelbaren Nachbarschaft zugestellt werden." Nicht nur Marokko, sondern weiten Teilen Afrikas droht durch die Corona-Pandemie ein Rückschlag in der AIDS-Prävention.

Besser läuft es im Libanon. "Während der Corona-Pandemie wurden die Hilfsorganisationen vom National Health Programm unterstützt", sagt Nadja Badran. "So gab es etwa Masken für alle Mitarbeiter, ebenso auch Test-Ausrüstungen. Darum konnten wir unsere Hilfsprogramme weitgehend aufrechterhalten."

Masken hätten hinreichend zur Verfügung gestanden. "Zusätzlich haben wir online-Dienste zur psychosozialen Unterstützung der Infizierten eingerichtet. Auch das war und ist für sie eine große Hilfe." Denn der Kampf gegen HIV ist zwar immer schwer. Aber gemeinsam ist er etwas leichter als in völliger Einsamkeit.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika