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Politik

Im Schatten des Weihnachtsmarkt-Attentats

27. Dezember 2016

Angela Merkel ist und bleibt omnipräsent: Die Bundeskanzlerin strebt eine vierte Amtszeit an. Frank-Walter Steinmeier ist Außenminister auf Abruf. Und die AfD startet durch. Eine 2016-Bilanz von Marcel Fürstenau.

Essen CDU-Bundesparteitag Rede Merkel
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Das Jahr 2016 beginnt denkbar schlecht. Nach den massenhaften sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht. Als Tatverdächtige werden vor allem junge Männer aus Nordafrika identifiziert. Die im Zuge der Flüchtlingskrise ohnehin schon gereizte Stimmung im Land spitzt sich weiter zu. Das Versagen der Sicherheitsbehörden in Köln wird zum Synonym für einen Staat, der seine Bürger nicht mehr vor Gewalt schützen kann. So pauschal ist das natürlich Unsinn, aber die Verunsicherung im Land nimmt spürbar zu. Als das Jahr schon fast zu Ende ist, kurz vor Weihnachten, der große Schock: das Attentat auf einen Berliner Weihnachtsmarkt. Der mutmaßliche Täter, ein Islamist, rast mit einem Lastwagen in die Menge. Zwölf Menschen sterben, 50 werden verletzt, einige lebensgefährlich. Es ist der negative Höhepunkt nach einer ganzen Reihe von islamistischen Anschlägen, die vergleichsweise glimpflich verlaufen. Darunter die Attentate von Würzburg und Ansbach im Sommer.

Eine schreckliche Dimension hat im Juli auch der Amoklauf von München, bei dem neun Menschen ums Leben kommen. Eine Tat, die politisch und medial voreilig ebenfalls als Terroranschlag bezeichnet wird. Hass und Gewalt bekommen auch Flüchtlinge zu spüren, oft werden sogar ihre Unterkünfte in Brand gesetzt. Die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung macht weiter mobil. In diesem Klima fällt es auch Politikern mitunter schwer, sich Gehör zu verschaffen. Der gesellschaftliche Diskurs ist vergiftet. Auch die höchsten Repräsentanten des Staates werden hemmungslos verunglimpft.

Zwietracht am Tag der Deutschen Einheit

Das Wort "Lügenpresse" hat auf Demonstrationen und im Internet Hochkonjunktur. Beklemmend sind die Ereignisse am 3. Oktober, als in Dresden 26 Jahre Deutsche Einheit gefeiert werden. Eine lautstarke Minderheit beschimpft Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck. "Wutbürger" machen immer häufiger von sich reden. Ihre Sorgen - berechtigte und vorgeschobene - greift die Alternative für Deutschland (AfD) gewinnbringend für sich auf. 

Schlechtes Wetter, schlechte Laune - "Pegida" pöbelt am Tag der Deutschen Einheit in DresdenBild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

Die erst 2013 entstandene Partei stürmt bei den fünf Landtagswahlen dieses Jahres mit zweistelligen Ergebnissen in fünf weitere Parlamente und verdoppelt damit ihre Präsenz auf dieser politischen Ebene. In Sachsen-Anhalt wird die erstmals angetretene AfD mit 24,3 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der CDU (29,8 Prozent). Durch den Aufstieg der AfD wird die Regierungsbildung schwieriger. Zwar gibt es weiterhin Zweier-Koalitionen (Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern), aber Dreier-Bündnisse überwiegen (Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt).

Weil niemand mit der AfD kooperieren will, gibt es plötzlich Konstellationen, die vorher kaum jemand wollte. So regiert in Sachsen-Anhalt Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) mit SPD und Grünen. In Baden-Württemberg koaliert Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) erstmals mit der CDU. In Rheinland-Pfalz bildet die SPD mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer eine sogenannte Ampel mit den Grünen und der FDP.

Im Stadtstaat Berlin regiert erstmals Rot-Rot-Grün

Apropos FDP: Die Zeit der außerparlamentarischen Opposition ist für die Liberalen zumindest in Berlin und Rheinland-Pfalz vorbei. Aus diesen Erfolgen speist sich ihre Zuversicht, bei der Bundestagswahl 2017 nach vier Jahren Abstinenz in den Deutschen Bundestag zurückzukehren. FDP-Chef Christian Lindner, noch Oppositionsführer im Landtag von Nordrhein-Westfalen, strebt ein Mandat für den Bundestag an. Und im Zeichen der neuen Flexibilität erscheint sogar eine Rückkehr seiner Partei ins Bundeskabinett vorstellbar.

Was im Stadtstaat Berlin funktioniert, scheint auf Bundesebene noch in weiter Ferne zu seinBild: Imago/C. Ohde

Vieles spricht dafür, dass im nächsten Bundestag sechs statt vier Parteien vertreten sein werden. Auf der Basis aktueller Umfragewerte, die seit Monaten relativ stabil sind, würde es im Bund sogar für bestimmte Dreier-Koalitionen nicht reichen. Ein Trio SPD, Linke und Grüne - seit kurzem im Stadtstaat Berlin an der Macht - bekäme für den Bundestag momentan keine Mehrheit. Trotzdem gibt es seit einiger Zeit parteiübergreifende Gesprächskontakte, um Gemeinsamkeiten und Trennendes auszuloten. Der Wunsch, eine weitere Große Koalition aus CDU/CSU und SPD zu verhindern, ist im rot-rot-grünen Milieu stärker denn je.

Die Zeichen stehen auf Fortsetzung der Großen Koalition

Trotzdem wage ich die Prognose, dass es auf eine Fortsetzung von Schwarz-Rot hinausläuft. Schließlich ist deren gemeinsamer Kandidat für den im Februar zu wählenden Nachfolger von Bundespräsident Joachim Gauck ein Sozialdemokrat: Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Seine Wahl gilt als absolut sicher, denn Sozialdemokraten und Konservative haben in der Bundesversammlung eine überwältigende Mehrheit. Steinmeiers Kür ist allerdings auch das Ergebnis der vergeblichen Kandidaten-Suche des konservativen Lagers. Dessen Wunschkandidat, Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), steht nicht zur Verfügung.   

Ende einer Dienstzeit: Bundespräsident Gauck, der nicht mehr kandidiert, und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Der 68-Jährige wäre als Kompromiss wohl auch für die SPD akzeptabel gewesen. Nun soll es also Steinmeier werden. Sein Name steht für Kontinuität und Verlässlichkeit. Man darf diese Personalie getrost als Signal werten. Denn die Nominierung für das höchste Amt im Staat war in der bundesdeutschen Geschichte immer wieder ein Vorgriff auf sich abzeichnende oder angestrebte Regierungskoalitionen. Und weil auch Schwarz-Grün nach heutigem Stand keine Mehrheit hätte, erscheint die Bildung der dritten Großen Koalition unter Angela Merkel nach 2005 und 2013 durchaus realistisch.

Ein Denkzettel für die wiedergewählte CDU-Vorsitzende

Kurz vor dem CDU-Parteitag Anfang Dezember in Essen erklärt die Bundeskanzlerin ihre Bereitschaft, nochmals zu kandidieren. Ihre Partei atmet tief durch - wen sonst hätte sie ins Rennen schicken sollen? Bei der Wiederwahl zur CDU-Vorsitzenden muss sich Merkel trotzdem mit einem für ihre Verhältnisse bescheidenen Ergebnis von 89,5 Prozent begnügen. Zwei Jahre zuvor waren es noch 96,7 Prozent. Der Rückhalt ist spürbar kleiner - Folge ihres umstrittenen Kurses in der Flüchtlingspolitik.   

Angela Merkel aus Zuckerpaste - gesehen am 22. Oktober bei der "Olympiade der Köche" in ErfurtBild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Merkels schärfster Widersacher sitzt in München. Die massive Kritik des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer an der deutschen Regierungschefin gehört zu den Konstanten dieses Jahres. Merkel und ihre CDU können sich nicht einmal der uneingeschränkten Unterstützung ihrer Schwesterpartei im Bundestagswahlkampf 2017 sicher sein. Seehofer besteht auf einer Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr, die Kanzlerin lehnt das hartnäckig ab. Deshalb stellt der Bayer sogar die Beteiligung an einer künftigen Bundesregierung unverhohlen infrage.    

Steinmeier geht, Schulz kommt - so oder so

Mit dieser Androhung neigt sich das ereignisreiche Jahr 2016 seinem Ende zu. Schlaflose Nächte wird die Bundeskanzlerin wegen des brüllenden Löwen aus Bayern keine haben. Größere Sorgen muss sich hingegen Vize-Kanzler Sigmar Gabriel machen. Der SPD-Chef gilt als potenzieller Herausforderer Merkels. Aber die SPD will ihren Kandidaten partout erst Ende Januar präsentieren. Wird es Martin Schulz? Der scheidende Präsident des Europäischen Parlaments wechselt 2017 in die Bundespolitik.

Gut möglich, dass er den designierten Bundespräsidenten Steinmeier als Außenminister beerbt. Und ein Duo Merkel/Schulz könnte bei einem entsprechenden Ergebnis nach der Bundestagswahl gleich weitermachen. Das könnten sie wohl sogar ohne die Unterstützung der Seehofer-CSU schaffen. Denn eine Koalition mit der SPD würde die CDU höchstwahrscheinlich aus eigener Kraft zustande bringen.