Immer mehr Abschiebungen aus Deutschland
3. September 2025
Mert Sayim ist oft auf Flughäfen in Nordrhein-Westfalen (NRW) unterwegs, vor allem in der Landeshauptstadt Düsseldorf. Allein von dort wurden im Jahr 2024 mehr als 2800 Menschen auf dem Luftweg aus Deutschland abgeschoben. Menschen, deren Asylanträge abgelehnt worden waren oder die aus anderen Gründen keine Bleibeperspektive hatten.
2024 wurden über 20.000 Menschen abgeschoben
Sayim arbeitet in der kirchlichen Diakonie als Referent für Flucht, Migration und Integration. Sein Job besteht darin, Abschiebungen vor Ort zu beobachten und mögliches Fehlverhalten im Umgang mit Betroffenen zu dokumentieren. Ihre Zahl kennt er ganz genau. Seit 2022 ist sie von knapp 13.000 auf über 20.000 pro Jahr gestiegen.
Im Jahr 2025 geht die Kurve weiter nach oben. Laut Bundesinnenministerium sind im ersten Halbjahr bereits 12.000 Menschen abgeschoben worden. Sayim wird also noch mehr zu tun bekommen, wenn Menschen nach rechtlicher Überprüfung, aber gegen ihren Willen, Deutschland verlassen müssen. Die mitunter beklemmenden Eindrücke werden regelmäßig dokumentiert und veröffentlicht.
Kaum operiert, schon abgeschoben
Bei der Vorstellung des aktuellen Jahresberichts der Stelle für Abschiebungsbeobachtung schildert Sayim ein Beispiel: "Beobachtet wurde unter anderem die Abschiebung eines Kindes nach einer kürzlich erfolgten Herzoperation. Und zwar ohne, dass die medizinisch notwendige Nachsorgeuntersuchung durchgeführt wurde – obwohl diese bereits terminiert war." In solchen Fällen wünscht sich Sayim mehr Fingerspitzengefühl und Flexibilität.
Im Jahresbericht gibt es dafür allgemeine Empfehlungen: "Bei der Abschiebung erkrankter Personen muss im Einzelfall geprüft und nachgehalten werden, ob die betroffene Person im Zielland tatsächlich Zugang zu der erforderlichen medizinischen Versorgung hat. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Behandlung für sie persönlich erreichbar, finanzierbar und zugänglich ist." Sollten erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen, müsse eine Abschiebung ausgesetzt werden.
Bundespolizei: "Keine Zurückführung um jeden Preis"
Doch dazu kommt es selten und eher aus anderen Gründen. So weigern sich Piloten gelegentlich zu fliegen, wenn sich abzuschiebende Personen aggressiv verhalten. Die Sicherheit an Bord für alle Passagiere hat Vorrang. So sieht das auch die für Grenzsicherung zuständige Bundespolizei, mit der die staatlich unabhängige Abschiebungsbeobachtung in Nordrhein-Westfalen schon lange kooperiert.
"Keine Zurückführung um jeden Preis", betont die mit dem Thema vertraute Hauptkommissarin Andrea Hoffmeister von der Pressestelle der Bundespolizei-Direktion in Sankt Augustin. Alle an Abschiebungen beteiligten Kolleginnen und Kollegen seien geschult, teilweise in Form von Spezialfortbildungen. Und im Flughafen habe man extra Räume für Familien und Kinder eingerichtet.
Ruf nach mehr Transparenz
Von solchen Maßnahmen zur emotionalen Beruhigung ausreisepflichtiger Menschen kann sich Abschiebungsbeobachter Mert Sayim nur zum Teil ein Bild machen. Denn sein Blick reicht nur bis zur Gangway des Flugzeugs – viel zu wenig aus seiner Sicht: "Das Monitoring von Abschiebungsmaßnahmen muss ausgeweitet und strukturell gestärkt werden", fordert er mehr Transparenz.
So etwas müsse auf Bundes- und Landesebene gesetzlich verankert werden, meint Sayim. Dabei sollte seines Erachtens auch geregelt werden, den gesamten Abschiebungsprozess beobachten zu dürfen: "Konkret meinen wir damit die Abholung der Menschen an ihrem Aufenthaltsort und die Zeit des Fluges." So sei es bereits seit 2008 in einer Richtlinie der Europäischen Union (EU) verpflichtend vorgesehen, sagt Sayim.
Innenminister Dobrindt steuert schärferen Kurs
Deutschland ignoriert diese Richtlinie jedoch und setzt gemeinsam mit anderen Ländern auf weitere Verschärfungen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt von der Christlich-Sozialen Union (CSU) hat im Juli seine Amtskollegen aus Österreich, Dänemark, Frankreich, Tschechien und Polen eingeladen, um sich abzustimmen. "Wirksame Rückführungen sind eine unerlässliche Voraussetzung für das Vertrauen in eine ausgewogene europäische Migrationspolitik", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.
Vertrauen in einem anderen Sinne wünscht sich Pfarrer Rafael Nikodemus von der Diakonie Rheinland Westfalen Lippe, bei der die Abschiebungsbeobachtung organisatorisch angesiedelt ist: "Transparenz in diesem abgeschirmten Bereich tut allen am Abschiebungsprozess beteiligten Institutionen gut. Wichtig ist der gemeinsame Blick staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen auf das, was humanitär vertretbar ist."
Kirchen-Asyl statt Abschiebung
Die Folgen des zunehmenden politischen Drucks und der gesellschaftlich polarisierten Migrationsdebatte spürt Pfarrer Nikodemus auch dort, wo von Abschiebung bedrohte Menschen oft einen letzten Zufluchtsort finden: in der Kirche. Im Jahr 2024 habe es in Nordrhein-Westfalen 329 neue Fälle von Kirchenasyl gegeben, sagt Nikodemus. "Das war in den Jahren davor weniger."