1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Chronische Erkrankungen bei jungen Menschen nehmen zu

Gudrun Heise
5. Oktober 2017

Rheuma, Diabetes, Asthma, Darmerkrankungen & Co bringen wir meistens mit älteren Menschen in Verbindung. Stimmt nicht! Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden darunter - Tendenz steigend.

Symboldild Arme Kinder sind öfter krank
Bild: picture alliance/dpa/C. Rehder

In Deutschland und anderen Industrieländern nehmen die chronischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in erschreckendem Maße zu. Darin sind sich Experten einig. Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Gründe. "Es gibt immer mehr Frühgeborene", sagt Professor Michael Radke. "Sie haben ein hohes Risiko, chronische Krankheiten zu entwickeln. Wir verzeichnen eine dramatische Zunahme an Autoimmunerkrankungen, und seit etwa 50 Jahren einen deutlichen Rückgang von Infektionskrankheiten." Das hängt miteinander zusammen: Das Immunsystem lernt nicht mehr, die Infektionen zu bekämpfen und eine ausreichende Abwehr dagegen aufzubauen.

Mehr als elf Prozent aller Mädchen und rund 16 Prozent aller Jungen unter 17 Jahren sind wegen chronischer Erkrankungen in ärztlicher Behandlung, so eine Studie des Robert-Koch-Instituts. Viele leiden unter Neurodermitis, unter Krebserkrankungen oder auch unter Zölikalie, also Glutenunverträglichkeit. 

Generation Sagrotan

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Kinder, die auf einem Bauernhof groß werden, wesentlich seltener etwa an Asthma leiden als zum Beispiel Kinder in wohlbehüteten Familien in der Stadt. Grund dafür ist unter anderem, dass die Landkinder täglich Bakterien aufnehmen und sich ihr Körper damit auseinandersetzen muss.

"Überzogene Hygiene und die fast hysterische Angst vor irgendwelchen kleinen Schmutzpartikeln, die ein Kleinkind so zu sich nimmt, das grenzt schon ein bisschen an irrationales Vorgehen und ist wahrscheinlich ein Teil des Problems", so Kinderarzt Radke.

"Man muss nicht gleich hysterisch schreien, wenn ein Kind mal eine Möhre aus dem Garten der Oma zieht und die Möhre einfach isst, obwohl sie nicht zu 100 Prozent hygienisch ist. So kann natürlich auch Dreck in den Magen kommen. Wo ist da das Problem?"

Natürlich sei er gegen Hunde in Sandkästen und dafür, dass Hygienegrundsätze eingehalten würden. Viele Fachleute aber sind überzeugt, dass es falsch ist, alle Bakterien im Haushalt zu vernichten und dass es wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen bringt. Das gilt auch für Chemikalien und Putzmittel, die gerade in Haushalten oft bedenkenlos eingesetzt werden, mit besten Absichten.

Im Matsch spielen hält gesundBild: Fotolia/Vanessa van Rensburg

Bakterien schützen

Antibiotika in der Massentierhaltung sind weitere Gründe für ein schlecht oder gar nicht funktionierendes Immunsystem. Lebensmittel von heute sind meist sehr lange haltbar. Sie sind sterilisiert, ultrahoch erhitzt oder pasteurisiert. Alle Bakterien sind abgetötet.

"Das Immunsystem eines Kleinkindes ist darauf angewiesen, sich mit Bakterien und Viren aus der Umwelt auseinanderzusetzen. Wenn das über lange Zeit fehlt, weil die Kinder mit sterilen Lebensmitteln ernährt werden, ist es kein Wunder, wenn das Immunsystem irgendwann auf Abwege gerät und dann gegen den eigenen Körper Entzündungsprozesse in Gang setzt."

Früher war alles besser?

In den letzten 20 bis 30 Jahren haben sich immer häufiger chronische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Michael Radke hat diese Erfahrung in seiner langjährigen Praxis als Kinderarzt und Leiter zweier Kinderkliniken immer wieder machen müssen. Er ist Spezialist für Magen-Darm-Erkrankungen.

"In den 1980er Jahren etwa gab es von 1000 Neugeborenen vielleicht zwei Kinder mit einer Glutenunverträglichkeit. Heute sind es fünfmal so viele". Auch viele andere Erkrankungen bereiten dem Arzt Sorge: "Wir haben heute in unserer Klinik jeden Monat einen neuen Patienten mit einem Diabetes. Wir haben sogar Säuglinge mit Diabetes. Das ist sehr beängstigend, denn das heißt für das Kind, dass es lebenslang Insulin nehmen muss – zumindest nach dem heutigen Stand der Wissenschaft."

Kaiserschnitt und Babymilch

Oft ziehen Frauen einen Kaiserschnitt einer natürlichen Geburt vor. Im Geburtskanal aber kommt das Neugeborene sofort mit Bakterien in Berührung, der Körper muss sich wehren. Auch Muttermilch ist dafür wichtig, denn sie wirkt wie eine erste Impfung. Sie hilft, ein gesundes Immunsystem aufzubauen und sich gegen Allergien zu wappnen. In den ersten Wochen unterstützt Muttermilch die Verdauung und schützt vor Darminfektionen. Kinder, die mit fertiger Babynahrung gefüttert werden, haben diese Vorteile nicht. Das muss nicht notwendigerweise zu chronischen Erkrankungen führen, kann aber ein erhöhtes Risiko dafür bieten. 

Ein Risikofaktor ist absurderweise auch der Fortschritt in der Medizin. Frühchen hatten vor etlichen Jahren kaum Überlebenschancen. Heute ist das in den meisten Fällen kein Problem mehr. Aber bei so manchem extrem frühgeborenen Kind ist die Gefahr, eine chronische Erkrankung zu entwickeln, größer.

Schaltet mal ab! Ständige Erreichbarkeit und Bewegungsmangel sind nicht gut. Bild: picture alliance/KEYSTONE

Zuviel Stress und falsche Ernährung

Kinder sind sehr vielen Umwelteinflüssen und verschiedenen Eindrücken ausgesetzt. In manchen Familien laste ein großer Druck auf den Kindern. Viele können diesen nicht bewältigen: hohe Anforderungen in der Schule, Freizeitstress, ständige Erreichbarkeit übers Handy. "Ich bin nicht sicher, ob Kindern heute noch genug Freiraum gelassen wird, ihre eigene Welt zu entdecken und sich zu entwickeln", sagt Radke.

Mangelnde Bewegung und falsche Ernährung, begünstigen ebenfalls chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Dazu gehört vor allem Adipositas, also Fettleibigkeit. Eine weltweite Studie der WHO von 2016 ergab, dass 41 Millionen Kinder zu dick sind. Auch hier ist die Tendenz steigend. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die in der Nähe von Fastfood-Restaurants leben, erheblich häufiger unter Adipositas leiden.

Fachärzte sterben aus

Für Erwachsene gibt es Spezialisten in den verschiedensten Bereichen – von Kardiologen, über Diabetologen bis hin zu Neurologen. Für Kinder und Jugendliche ist dafür der niedergelassene Kinderarzt zuständig oder aber die nächstgelegene Klinik. Aber die Ausbildung etwa zum Kinderdiabetologen dauert lange. "Sie müssen sechs Jahre studieren, fünf Jahre Fachausbildung absolvieren und dann noch drei Jahre lang eine Spezialausbildung zum Kinderdiabetologen machen", erklärt Radke. "Für diese Spezialausbildung gibt es in Deutschland aber keine Resourcen. In fünf bis zehn Jahren gibt es keine Spezialisten mehr. Ein zweijähriges Kind mit Diabetes muss dann zum Diabetologen für Erwachsene, aber der kennt sich meist nur mit alten Menschen aus, nicht mit Kleinkindern."

Um Kinder und Jugendliche mit chronischen Krankheiten ist es in Deutschland also nicht gut bestellt. Und die Forschung steckt da im wahrsten Sinne des Wortes noch in den Kinderschuhen.

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen