Immer mehr rassistische Gewaltverbrechen in Russland
12. April 2006Sankt Petersburg, Frühjahr 2006: ein Student aus dem Senegal wird auf offener Straße erschossen, ein kleines dunkelhäutiges Mädchen, Tochter eines Afrikaners und einer Russin, mit Messerstichen schwer verletzt, ein 39-jähriger Mann aus Mali wird erstochen. Die Gewalt ist überall, nicht nur in Sankt Peterburg, Russlands zweitgrößter Stadt. Alarmierende Nachrichten kommen ebenso aus Moskau, aus Nischni Nowgorod, aus Woronesch. Über 50.000 Neonazis soll es inzwischen in Russland geben. Ihre Wut und Gewalt richten sich gegen alle, die anders aussehen, die oft wehrlos sind, und die nach Überzeugung der meist jugendlichen Täter in Russland nichts zu suchen haben.
Perspektivlosigkeit und Wut
Emil Pain leitet das Forschungszentrum für Fremdenfeindlichkeit und Extremismus der Russischen Akademie der Wissenschaften. Für ihn ist der wachsende Fremdenhass Ausdruck gesellschaftlicher Probleme. Der Deutschen Welle sagte er: "Wenn die Jugend keine Möglichkeit hat, sich aktiv und offen mit Politik zu befassen, wenn sie praktisch nirgendwo die Möglichkeit hat, sich selbst zu verwirklichen, dann entsteht zwangsläufig eine fremdenfeindliche Bewegung - gegen jeden Feind, im Ausland, im Inland, gegen soziale oder ethnische Feinde."
Feinde, das sind in erster Linie Menschen mit anderer Hautfarbe, Menschen, die als Studenten aus Afrika oder Asien nach Russland kommen, aber auch Gastarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens. Sie werden in der Metro angepöbelt, auf der Straße verfolgt - und im schlimmsten Fall ermordet.
Rassistische Hintergründe geleugnet
Eines von vielen Beispielen ist der gewaltsame Tod eines neunjährigen Mädchens aus Tadschikistan. Die kleine Churscheda Sultanowa war im Februar 2004 mit ihrer Familie in Sankt Petersburg auf der Straße überfallen und erstochen worden. Zwar landeten die Täter vor Gericht und wurden Ende März dieses Jahres auch verurteilt. Allerdings nicht wegen Mordes, sondern wegen "Rowdytums". Einen rassistischen Hintergrund der Tat konnten die Richter nicht erkennen. Fremdenfeindliche Motive werden bei solchen Überfällen tatsächlich häufig geleugnet. Genau damit müsse Schluss sein, fordern Menschenrechtler. Denn die Täter fühlten sich durch milde Urteile noch bestätigt.
Gleichgültigkeit in der Bevölkerung
Mehr Offenheit im Umgang mit dem Problem Fremdenfeindlichkeit fordern nicht neben russischen auch westeuropäische Menschenrechtler. Einer von ihnen ist Peter Franck, Russland-Experte von amnesty international. Franck ist der Meinung: "Es sollte vor allem ganz öffentlich benannt werden, und schonungslos auch gesagt werden, dass es ein Problem mit Neo-Nazis in Russland gibt, und dass man dagegen eintreten muss. Und ich glaube, dass langsam auch den russischen Behörden klar wird, dass sie hier ein ganz ernstes Problem haben."
Tatsächlich melden sich immer häufiger Politiker und Prominente zu Wort - mit Appellen gegen Fremdenhass. Der Gouverneur von Sankt Petersburg hat noch für das laufende Jahr Programme für mehr Toleranz angekündigt. Andere Teile des politischen Spektrums setzten jedoch ganz offen auf nationalistische Parolen. Gefragt sei deshalb in erster Linie ein Umdenken in der Bevölkerung, meint Jelena Rjabinina von der russischen Menschenrechtsorganisation "Bürgerhilfe": "Diese feindliche Stimmung wurde schon seit langem zusätzlich angeheizt durch all dieses Gerede von 'Personen kaukasischer Herkunft', 'Personen asiatischer Herkunft' - aber auch durch solche schändlichen Ereignisse wie den Aufmarsch von Rassisten im vergangenen Jahr in Moskau. Diese Leute durften durch das Zentrum von Moskau ziehen mit Parolen wie 'Russland den Russen!' Es muss uns in erster Linie irgendwie gelingen, in der Gesellschaft Ablehnung und Unwillen gegenüber solchen Ereignissen zu erzeugen."
Bisher ist Gleichgültigkeit das vorherrschende Gefühl. Doch es regt sich auch Widerstand. In Sankt Peterburg protestierten kürzlich etwa 300 Vertreter politischer Parteien und Menschenrechtsorganisationen - nicht nur gegen Fremdenhass, sondern auch gegen die Apathie in der Bevölkerung. Auf den Plakaten der Demonstranten war zu lesen: "Blut fließt auf unseren Straßen, und wir schauen dem gleichgültig im Fernsehen zu."
Britta Kleymann
DW-RADIO, 10.4.2006, Fokus Ost-Südost