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Gesellschaft

Immer noch gefragt: Die Suche nach Vermissten

Charlotte Müller
30. August 2020

Nach dem Zweiten Weltkrieg klärte der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes Millionen Vermisstenschicksale auf. Heute arbeitet er international. Seine Kontakte reichen bis nach Guantanamo.

Ein Mann liest in Akten zwischen karteikartenschränken
Blick in das Archiv in München (2014)Bild: picture-alliance/dpa/M. Müller

Ali Reza und seine Familie harrten gerade mit ein paar Hundert anderen Menschen in der Türkei aus, als nachts die Grenzpolizei auftauchte: "Sie haben in die Luft geschossen. Die Leute hatten Angst wegen der Pistolen, alles ging durcheinander, alle haben geschrien und geweint. Und da habe ich meine Mutter und Schwester verloren."

Lange wusste der 21-jährige Afghane nicht, was in dieser Nacht aus seiner Familie geworden war, ob seine Mutter und Schwester überhaupt noch lebten. Inzwischen wohnt Reza bei einer Pflegefamilie in Deutschland. 2018 hat er mithilfe des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) seine Mutter und Schwester wiedergefunden. Drei Jahre nach ihrer Trennung.

Letzte Hoffnung Rotes Kreuz

02:28

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"Es ist für die Menschen ungeheuer wichtig, Klarheit über das Schicksal ihrer vermissten Lieben zu erhalten, sonst können sie nicht zur Normalität übergehen. Man braucht Gewissheit", sagt Dorota Dziwoki, Leiterin der Suchdienstleitstelle des DRK in Berlin im DW-Interview. Sie weiß, dass der Suchdienst heute, 150 Jahre nach seiner Entstehung, nichts an Bedeutung eingebüßt hat.

Anfänge im Ersten Weltkrieg

Gegründet 1863, spielte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Ersten Weltkrieg bereits eine wichtige Rolle. Damals eröffnete das IKRK eine Zentrale für Kriegsgefangene und stellte so den Kontakt zwischen den gefangengenommenen Soldaten und ihren Familien wieder her. Doch schon wenige Jahre nach Kriegsende stellte der deutsche Ableger des Roten Kreuzes den eigentlichen Suchdienst wieder ein.

"Als dauerhafte Institution, besteht der Suchdienst erst seit den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs", sagt Dorota Dziwoki. "Als so viele Menschen durch die Bombardierung der deutschen Städte, durch Vertreibung aus den ehemals deutschen Gebieten, durch Kriegs- und Zivilgefangenschaft den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren haben. Seitdem ist der Suchdienst des DRK eine große Organisation."

Millionen Schicksale

Wie groß die Nachfrage nach Kriegsende wirklich war, zeigt sich erst in den Folgejahren. Allein in den ersten fünf Jahren nach Kriegsende gingen beim DRK 14 Millionen Suchanfragen ein. Bis 1950 konnten 8,8 Millionen Menschen über die Schicksale ihrer Angehörigen aufgeklärt werden. Auch mit der Flucht aus den Vertreibungsgebieten und der Gründung der beiden deutschen Staaten kam es in den Folgejahren zu vielen weiteren Familientrennungen und Suchanfragen.

Auch alte Fotos helfen dem DRK, Vermisste ausfindig zu machenBild: picture-alliance/dpa/M. Müller

Im Haus der Geschichte in Bonn, dem bundesdeutschen historischen Museum, erinnert ein kleiner Teil der Ausstellung an diese Zeit. 300.000 Karteikarten aus der Namenskartei des DRK werden hier ausgestellt - so viele Vermisste gab es alleine mit Nachnamen, die mit den Buchstaben L und M beginnen. Kinder konnten nicht in die Kartei aufgenommen werden, wenn sie ihren Nachnamen noch nicht wussten.

Eine Museumsbesucherin erinnert sich: "Ich bin Jahrgang 1950. Wir haben das auch mitbekommen, auch innerhalb der Familie. Zum Beispiel wurde noch ein Onkel von mir gesucht, aber nie gefunden."

Internationales Interesse

Im vergangenen Jahr, so Dorota Dziwoki, gingen beim DRK noch 10.091 Anfragen ein, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs betreffen. Auch aus Skandinavien, Österreich, Polen und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Schon lange klärt der Suchdienst des DRK nicht mehr nur die Schicksale vermisster Deutscher.

75 Jahre nach Kriegsende zieht die DRK-Mitarbeiterin Bilanz: "Wir waren und sind, würde ich behaupten, heute noch der größte Suchdienst in Europa und der Welt." Eigentlich sollte die Suche nach Vermissten des Zweiten Weltkriegs 2023 eingestellt werden. Wegen der großen Nachfrage wird er nun um zwei weitere Jahre verlängert.

Auf internationaler Ebene bleibt der Suchdienst dauerhaft bestehen. Bewaffnete Konflikte, Gewalt, Migrationsströme und Klimawandel treiben heute viele Menschen in die Flucht und führen dazu, dass Familien auseinandergerissen werden und nicht mehr über das Schicksal ihrer Angehörigen informiert sind. 

Migranten zwischen USA und Mexiko (2019) - in so einem Wirrwarr können sich Familien aus den Augen verlierenBild: Reuters/H. McKay

Besonders extrem ist die Situation in Afrika. Hier meldet das IKRK aktuell 44.000 Vermisstenfälle. Mehr als 80 Prozent von ihnen werden in sechs Ländern verzeichnet: Nigeria, Äthiopien, dem Südsudan, Somalia, Libyen und Kamerun. Fast die Hälfte aller vermissten Personen ist zum Zeitpunkt des Verschwindens noch minderjährig.

Zugang selbst zu Guantanamo

Heute arbeitet der Suchdienst des DRK international eng mit den anderen Suchnetzwerken der Rot-Kreuz- und Rot-Halbmond-Gesellschaften zusammen. Die Neutralität und Unabhängigkeit spielt dabei eine zentrale Rolle: "Wir können auch dann arbeiten, wenn die Staaten noch verfeindet sind.Das ist die Besonderheit unseres internationalen Suchdienstnetzwerkes. Das ist wirklich einzigartig auf der Welt", so Dziwoki.

Das IKRK hat Zugang zu Kriegsgefangenen- und Internierungslagern in allen Konfliktregionen der Welt. So kann Familien beispielsweise die Kontaktaufnahme zu Gefangenen im berühmtberüchtigten US-Lager Guantanamo ermöglicht werden.

Die Neutralität verschafft den Suchdiensten des IKRK sogar Zugang zu GefangenenlagernBild: picture-alliance/dpa/AFP/P.J. Richards

Suchanfrage mit Happy End

Ali Reza verheimlichte seiner Pflegefamilie zwei Jahre lang, dass er seine Familie vermisst. Lateef Ahadi, den Reza liebevoll seinen Vater nennt, weiß, warum: "Das ist eine Mentalitätsfrage. Er hat sich geschämt. Auf der einen Seite, weil er traurig war und nicht wusste, wo seine Mutter und Schwester sind." Außerdem kommt es vor, dass sich Frauen auf der Flucht prostituieren müssen. Das wird - je nach Herkunft - als eine familiäre Ehrenschande gesehen. "Als Junge musst du immer aufpassen auf die Frauen der Familie", sagt Ahadi. Dazu sei Reza wegen der Trennung nicht in der Lage gewesen.

Ali Reza (rechts) mit seinem Pflegevater Lateef AhadiBild: Privat

Ali Reza kannte den Suchdienst wie viele andere Geflüchtete lange nicht; erst über seinen Pflegevater hat er von dem Angebot erfahren. Zweieinhalb Jahre nachdem er seine Suchanfrage gestellt und ein Foto von sich veröffentlich hatte, erreichte ihn endlich eine Nachricht seiner Mutter. Über das erste Telefonat sagt er: "Meine Mutter hat stundenlang geweint. Wir konnten beide nicht viel sprechen." 

Allerdings kann Reza die beiden wiedergefundenen Familienmitglieder vorerst nicht sehen: Mutter und Schwester leben mit Flüchtlingsstatus in Großbritannien und ihm selber fehlen Papiere, um dorthin zu reisen: "Ich habe keinen deutschen Ausweis. Ich habe nur eine Duldung bis zum Ende meiner Ausbildung. Und darüber zerbreche ich mir den Kopf. Es wäre schön, wenn ich meine Familie besuchen könnte."

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